Traeume, zart wie Seide
sie einstürmenden Eindrücken abzulenken. Doch dieser Anblick war nicht viel besser. Sie trug eine schwarze Hose, deren Säume vom vielen Waschen grau wirkten. Im Koffer hatte sie noch mal die gleiche. Weil sie keine wirklich schicken Sachen besaß, hatte sie vor allem dunkle Kleidung eingepackt, in der Hoffnung, dass sie dann nicht gleich als Landei auffiel.
Jetzt, wo sie die Leute hier sah, erschien ihr das unmöglich.
„Kommst du oft hierher?“, fragte sie und wischte sich die feuchten Hände unauffällig an der Hose ab.
Gray nickte. „Ich unterrichte an der Columbia University und habe außerdem ein paar Klienten hier, sodass ich mindestens ein Mal im Monat herkomme. Von Washington fliegt man nur eine knappe Stunde.“
„Hast du eine Wohnung in New York?“
„Nein, ich wohne hier immer im Hotel Waldorf Asto ria.“
Unruhig rutschte Joy auf dem Sitz hin und her.
„Alles okay?“, fragte Gray mit einem Seitenblick.
„Ja“, krächzte sie, räusperte sich dann und wiederholte fester: „Ja, mir geht’s gut.“
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz: „Es wird alles bestens laufen.“
Überrascht blickte sie ihn an. Er steuerte den Wagen völlig entspannt durch den dichten Verkehr und hatte eindeutig alles unter Kontrolle.
„Du hast großes Glück“, sagte sie leise.
„Wieso?“, fragte er.
„Weil du so stark bist.“
Er runzelte die Stirn. „Glaub mir, manchmal bin ich nicht stark genug.“
Ein paar Minuten später hielten sie vor einem hohen hellen Gebäude. Ein Portier in Livree trat an den Wagen und öffnete Joy die Tür.
„Schön, Sie zu sehen, Mr. Bennett. Ma’am.“ Der Mann tippte an die Mütze.
„Rodney, wie geht es Ihnen?“ Gray öffnete den Kofferraum und holte Joys Gepäck heraus. Als sie ihm den Koffer abnehmen wollte, ergriff er ihn geschickt mit der anderen Hand. „Das hier ist Joy Moorehouse, sie wird bei Mrs. Cutler übernachten. Ich bringe sie nach oben.“
Joy folgte ihm überwältigt. Die Lobby war komplett mit Marmor getäfelt, überall standen riesige Vasen mit echten Blumen. Der Aufzug wirkte mit seinen schmiedeeisernen Gittern wie hundert Jahre alt, bewegte sich aber lautlos und ohne Ruckeln. Als er hielt, ließ Gray sie zuerst aussteigen und führte sie dann zu der einzigen Tür auf dem Stockwerk. Auf sein Klingeln öffnete ein Hausmädchen, doch Cassandra stand direkt dahinter.
„Sehr schön, ihr seid rechtzeitig zum Mittagessen da! Bleibst du auch, Gray?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich muss in einer Stunde in der Uni sein. Aber hättest du zum Abendessen Zeit?“
Cass schüttelte den Kopf. „Heute Abend bin ich schon mit Allison verabredet. Aber ich bin sicher, dass Joy Lust hätte, mit dir Essen zu gehen, oder?“
Unsicher blickte Joy zu ihm auf. „Du hast sicher Wichtigeres zu tun.“
„Ich hole dich um sieben ab“, sagte er fest, dann drehte er sich um und ging.
Joy tippte mit dem Bleistift auf das Blatt vor ihr und schüttelte den Kopf. Cassandra und sie hatten den ganzen Nachmittag über das Kleid diskutiert, und Joy fühlte sich in ihrem Element. Anfangs hatte sie gezögert, wie weit sie mit ihrem Design angesichts Cassandras Situation gehen konnte – immerhin war ihre Auftraggeberin gerade erst Witwe geworden. Doch Cassandra hatte ihr versichert, dass es in den Gesellschaftskreisen, in denen sie sich bewegte, keine Rolle spielte, wie sie sich fühlte – nur, wie sie aussah.
„Cass, ich weiß, dass man immer hört, Rothaarige könnten keine roten Kleider tragen, aber das stimmt einfach nicht“, sagte Joy. „Wenn wir uns für den Entwurf mit dem hohen Kragen entscheiden, wird dein Teint zum Gesamteffekt beitragen. Siehst du diese Linie hier? Zusammen werden die Farbe und der Schnitt dein Gesicht umschmeicheln. Wenn dir der Kontrast zum Haar zu gewagt erscheint, kannst du es ja hochstecken. Aber nötig ist das nicht, wenn ich den richtigen Farbton wähle, und das werde ich.“
Joy konnte selbst nicht ganz glauben, wie überzeugt sie ihre Meinung vertrat, aber sie war sich ihrer Sache vollkommen sicher. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits das fertige Kleid, kannte den exakten Farbton und jeden einzelnen Faltenwurf. Trotzdem wollte sie ihre erste und bisher einzige Kundin nicht völlig überrennen.
„Es tut mir leid, wenn ich dich zu sehr dränge.“
„Nein, überhaupt nicht.“ Cassandra lächelte herzlich. „Liebe Güte, du bist so viel besser als nur gut. Und du hast absolut recht. Machen wir es so.“
Joy
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