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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
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Stück Brot so etwas wie ein Heiliger Gral, aber ich will Ihnen diese Leidenssülze jetzt gar nicht auftischen. Schließlich kennen Sie das, so eine Geschichte hat jeder in seiner Familie, nicht? Die ersten Jahre Hunger, Kohlenklau, Schwarzmarktheroen. Und Sie müssen bedenken, mein Vater kam ja gerade erst aus Sibirien wieder. Ich? Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen. War eine tolle Frau. Kleines Haus im Moor, in der Nähe von Stettin.»
    Â«Die Klitsche», warf der Interviewer ein.
    Â«Klitsche? Nein, das hab ich bestimmt nicht gesagt. Da gab es Rhabarberstauden, Bohnen, Kartoffeln, hat sie alles selbst angebaut. Und Rhododendron. Sie hatte immer Angst, ich rutsch durch ihr improvisiertes Plumpsklo. Hatte ich auch Angst davor, all die Spinnen in dem Holzverschlag, und es roch nach feuchter, abblätternder Farbe, nach Kalk, und warm war nur der Dampf, der von der eigenen Scheiße wieder nach oben stieg. Verzeihen Sie, ich verderbe ihnen wohl grad den Appetit. Die haben hier gute Fischrestaurants, Ralph soll Ihnen nachher eins empfehlen. Ja, das waren keine guten Jahre.
    Wissen Sie, meine Tante hatte zwei beste Freundinnen,Erna Willwock und Marie Brumm. Die lebten nicht weit vom Bahnhof, der eigentlich nur da war, um die Radiotechniker näher an die Funkstation zu bringen, die die Reichsrundfunkanstalt im Wald versteckt hatte; meine Tante arbeitete als Funkerin. War noch ganz jung, hatte ihren Mann gleich am Anfang des Krieges verloren, den hatten sie in ein Unterseeboot gesteckt. Kunsttischler ist der gewesen, wir hatten noch einen Schrank, sein Gesellen- und einen Schreibtisch, sein Meisterstück, bei uns stehen. Meine Tante führte das Geschäft noch Jahre weiter, die Frauen von Stettin haben sie angeguckt, als wäre sie eine Bordellchefin mit ihren zwei Meistern und den vierzehn Gesellen unter sich, was für eine Frau! Aber dann mussten alle in die Fabriken und sogar auf die Werft, weil Hitler die Männer an den Waffen brauchte. Lillian-Ghish-Haare, das Kinngrübchen, die spitze, feine Nase, so hat sie ausgesehen. Wie die Lillian. Porzellanpuppengesicht. Aber eine Kämpferin, wie ich keine zweite erlebt hab. Und dann wurde sie ausgebombt, das Geschäft weg, die Werkstatt weg, die Wohnung. Die Gesellen, die noch da waren, hat man in Uniform gesteckt, die Meister gingen, sie war ganz allein … aber dann kam ja ich. Trier war ja auch weg. Und meine Mutter. Aber reden wir nicht mehr von mir.»
    Der Schmerz war fort. Klatschnass, aber glücklich, dass er es ausgehalten hatte, fragte der Interviewer nach dem Namen der Tante.
    Â«Wie meine Tante hieß? Das interessiert Sie? Sie sind lieb. Aber davon ein anderes Mal. Ziehen Sie den Vorhang noch weiter zu? Danke. Sie wissen, die Sonne.»
    Der Interviewer rappelte sich wieder hoch, zog den Vorhang ganz zu gegen die Nachmittagssonne und setzte sichwieder. Ihm war schwummerig. Blümerant, hatte Melanie immer gesagt, wenn sie ihre Tage hatte und Krämpfe bekam. So fühlte sich das also an. Und dann diese Lust, sich zu übergeben.
    Â«Mein Gott, alle denken doch immer noch, oh, Côte d’Azur, Sonne, Wein und Weiber, die Bardot, Antonioni, Fellini, der Piccoli, diese ganze Eitelkeit, das ganzes Chichi. Geld wird da verbrannt und Haut und sonst nichts. Sehen sie sich öfters Natursendungen an? Natursendungen im Fernsehen? Ist das Einzige, was ich gucke. Wussten Sie, dass Frösche eigentlich nur ein entscheidendes Organ haben, mit dem sie die Welt wahrnehmen? Ihre Haut. Ja, das ist es, und ich bin über die Jahre hinweg dünnhäutig geworden. Erst heißt es jahrzehntelang ‹Bussi hier, Bussi da› und ‹Ach, du musst unbedingt zu uns kommen› und ‹Alain kommt ja auch, und die Romy›, und dann ist die Romy tot, und Alain kommt nicht mehr, der Alain wird alt und verbittert, dann wird der Gastgeber alt und verbittert, dann vergisst man ihn, dann wird man selbst alt, und erst wenn man im Krankenhaus liegt und mit dem Tod kämpft, dann weiß man, wer seine Freunde sind. Da hat man Zeit nachzudenken, da geht einem sein Leben durch den Kopf, da weiß man, wen man wiedersehen will, und man sieht ja, wer kommt. Ich sage Ihnen, weniger, als ich dachte.
    Aber ich bin ein Gewinner. Das kann ich Ihnen sagen. Ein Gewinner um jeden Preis. Ich hab mir gesagt: Verlieren kann jeder. Verlieren, das ist zwar ein schöneres Wort, darin steckt die ganze deutsche Sentimentalität, da kann

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