Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
allem lächeln. »Bisher habe ich mir strikt verboten, das auch nur zu denken, und sei es bloß für einen Moment«, gesteht sie mir beinahe schuldbewusst. »Ich muss doch stark sein und mich um alles und jeden kümmern.«
»Muss du nicht«, entgegne ich sanft, aber bestimmt. »Niemand erwartet das von dir.«
»Wohl. Du erwartest das, und Mum und Dad, die Kollegen in der Kanzlei, einfach alle.« Und mit verstellter Stimme fügt sie hinzu: »Frag Kate. Überlass das Kate. Kate kümmert sich schon drum. Auf Kate ist immer Verlass.« Sie seufzt schwer.
»Stimmt, tun wir«, gestehe ich und fühle mich ein bisschen schuldig, »und das ist nicht fair. Wir dürfen dich nicht ständig für alles einspannen«, erkläre ich. »Aber du musst uns das auch sagen. Du darfst dir nicht immer alles aufhalsen lassen.«
»Wenn ich mich nicht um alles kümmere, geht es doch in die Binsen.«
»Woher willst du das wissen?«, gebe ich zurück.
»Das weiß ich eben«, erwidert sie bockig.
»Okay, dann lass es eben. Soll doch alles in die Binsen gehen.«
Kate guckt mich mit weit aufgerissenen Augen fassungslos an.
»Mal ehrlich, Kate. Was, wenn es wirklich so wäre? Es geht doch nicht um Leben oder Tod.« Kaum habe ich das ausgesprochen, möchte ich mir die Worte am liebsten selbst in den Rachen stopfen. »Ach herrje, tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint, ich und meine große Klappe …«
Mit einem entschiedenen Kopfschütteln unterbricht sie mich. »Nein, du hast ja recht«, sagt sie und schaut mich mit ihren blassgrauen Augen an. »Es geht nicht um Leben oder Tod. Nichts von alledem ist wirklich wichtig. Nicht die Partnerschaft in einer blöden Anwaltskanzlei, nicht das Training für einen bescheuerten Marathon und auch nicht, ob wir für die Küche nun die grauen Knopfmosaikfliesen nehmen sollen
oder doch lieber die weißen U-Bahn-Kacheln …« Sie verstummt und schüttelt beinahe ungläubig den Kopf.
»Quatsch mit Soße, Lucy«, schimpft sie sich selbst. »Ich war so unglaublich dämlich. Und blind. Die ganze Zeit habe ich gedacht, das sei es, was wirklich zählt im Leben, habe mich ständig verrückt gemacht, wollte immer mehr erreichen und es allen zeigen, dabei ist das alles ohne Jeff bloß bedeutungsloser Mist. Er ist das Einzige, was wirklich zählt. Ohne ihn hat alles keinen Sinn. Ohne ihn habe ich nichts mehr.« Sie schaut mich an, und ihre Augen schimmern verdächtig, und sie hat rote Flecken im Gesicht.
»Mein ganzes Leben lang habe ich nie bei irgendwas versagt. Ich war immer eine Einserkandidatin. Ich habe hart gearbeitet und geackert und geschuftet, und die Ergebnisse konnten sich sehen lassen; ich habe alle Prüfungen bestanden, bin den Marathon bis zu Ende gelaufen, bin immer wieder befördert worden. Es war einfach. Fast schon ein Kinderspiel. Es leuchtet ein. Aber hier läuft das alles ganz anders. Es ist so willkürlich. Krebs ist nicht logisch, er schlägt zu ohne Sinn oder Verstand, und ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühe oder was ich auch tue, ich habe überhaupt keinen Einfluss drauf. Ich bin vollkommen machtlos.« Sie schüttelt den Kopf. »Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht, was ich tun soll.«
Ich habe Kate noch nie so verstört und verängstigt erlebt, und es macht mir ein wenig Angst. So lange ich zurückdenken kann, war sie immer die starke, zupackende große Schwester. Noch nie habe ich sie so ängstlich und verunsichert gesehen, und bis jetzt war mir auch gar nicht klar, wie selbstverständlich ihr Rückhalt für mich war. Immer hat sie auf mich aufgepasst und mir damit unbewusst ein enormes Sicherheitsgefühl vermittelt. Ganz gleich, in welches Schlamassel oder in welche Scherereien ich mich auch wieder hineinmanövrieren mag, ich weiß, dass sie für mich da ist, dass sie mir den Staub von
den Knien klopft und alles wieder in Ordnung bringt. Wenn auch mit gerunzelter Stirn und einem ungeduldigen Seufzen.
Und mit einem Mal geht mir auf, wie sehr ich ihr das immer verübelt habe. Dass ihr Leben so perfekt und wohlgeordnet wirkte. Dass bei Kate nie was schiefging. Immer lief alles wie am Schnürchen. Nie misslang ihr irgendwas, und sie bekam immer, was sie wollte, seien es die tollen Haare oder die hervorragenden Examensnoten. Neben ihr kam ich mir immer vor wie eine Totalversagerin. Ihr Leben schien von A bis Z durchgeplant. Sie hatte ihre Gefühle im Griff. Ich glaube, sie hatte noch nie im Leben Liebeskummer. Sie hat Jeff kennengelernt, sie haben geheiratet und
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