Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
seien ihr eigenes Fleisch und Blut. Wenn sie Simon nicht gerade wegen seiner Arthrose die Hüfte akupunktiert oder Jenny chinesische Kräuter gegen ihre Allergien verabreicht, sitzt sie mit ihnen auf der Couch, krault ihnen den Bauch und schaut mit ihnen zusammen Oprah .
Oprah ist für Robyn, was der Papst für einen gläubigen Katholiken ist. Bewaffnet mit einer Schüssel Popcorn und der Fernbedienung hört sie ernst und aufmerksam zu, wie Oprah über Seitensprünge diskutiert, tupft sich die Tränchen weg, wenn Oprah ein Pärchen interviewt, deren Katze an Krebs gestorben ist, und umarmt jubelnd das Sofa, wenn Oprah in einer knallengen Jeans auftritt und stolz verkündet, zehn Kilo abgenommen zu haben. In gerade mal achtundvierzig Stunden haben wir Sex, Liebe und Gewichtsabnahme abgedeckt. Am Montagmorgen bin ich heilfroh, als ich Oprah zu Hause lassen und zur Arbeit gehen kann.
Obwohl Robyn mir glaubhaft versichert, die aktuelle Folge
an diesem Abend, in der es um einen Mann geht, der einen Grizzlybären geehelicht hat, würde bestimmt »ein richtiger Knaller«.
Ich arbeite in einer Kunstgalerie in SoHo namens Number Thirty-Eight, und von meinem neuen Zuhause kann ich jetzt zu Fuß dorthin gehen, weshalb ich jeden Morgen zwanzig Minuten länger im Bett bleiben kann.
Zumindest theoretisch.
In der Praxis verschlafe ich, und dank meines erbärmlichen Zeitgefühls werden aus den zwanzig Minuten unversehens vierzig.
Weshalb ich in meinen Flipflops sprinten muss wie eine Irre (was ein Widerspruch in sich ist. Ich meine, mal ehrlich, haben Sie schon mal versucht, in Flipflops zu laufen?).
Hastig streiche ich mir die vom Duschen noch nassen Haare glatt und drücke die Glastür zur Galerie auf. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ein sicheres Zeichen, dass ich diese DVD bitter nötig habe, wenn nicht für meinen Rettungsring, dann zumindest, um nicht schon vor meinem fünfunddreißigsten Geburtstag einem Herzinfarkt zu erliegen.
»Luuutzi!«, dröhnt eine laute Stimme aus dem hinteren Büro und kündigt meine Chefin an, Mrs. Zuckerman, sonst auch als Magda bekannt. Von ihrem Stimmvolumen ausgehend würde man eigentlich einen Riesen von mindestens zwei Metern und hundert Kilo Lebendgewicht erwarten. Aber nein, sie ist eine zierliche Blondine, knapp einen Meter fünfzig groß – selbst mit ihren schwindelerregend hohen Stöckelschuhen und der sorgfältig frisierten Bienenkorbfrisur, die sich auf ihrem Kopf gut fünfzehn Zentimeter hoch auftürmt wie ein goldgelber Heuhaufen.
»Wie schön, Sie zu sehen!«Von Kopf bis Fuß in Chanel gekleidet, kommt sie in die Galerie gewuselt, ihren minikleinen Malteserrüden auf den Fersen. Sie hebt die Hände und nimmt
mein Gesicht in die diamantenbesetzten Finger und drückt mir dann munter zwei Lippenstiftküsse auf die Wangen.
So begrüßt sie mich jeden Morgen. So ganz anders als das kurz angebundene »Hallo«, das ich von Rupert, meinem alten Boss aus London, gewohnt war. Aber Rupert ist schließlich auf die alte Elite-Schule Gordonstoun gegangen und ein Kumpel von Prinz Charles. Er lief immer durch die Galerie, als hätte er vergessen, den Kleiderbügel aus seinem Sakko zu nehmen, und trug einen dieser Siegelringe mit seinem Familienwappen, oder was auch immer es war, am kleinen Finger.
Immer, wenn ein Kunde in die Galerie kam, der auch so einen Ring trug, fummelte Rupert an seinem Exemplar herum, als benutze er einen Geheimcode und sie könnten sich mittels ihrer Siegelringe telepathisch miteinander verständigen.
Magda ist das genaue Gegenteil dieser altmodischen, überholten Siegelringmentalität der britischen Klassengesellschaft. Eine leicht verrückte jüdische Dame mit heftigem israelischen Akzent, obwohl sie seit über dreißig Jahren in New York lebt, die mit vornehmer Zurückhaltung nichts am Hut hat und von Spitzfindigkeiten, wie »Transpiration« anstatt »Schwitzen« oder »Wie bitte?« statt »Was?« zu sagen, rein gar nichts hält (alles Lektionen, die ich bei Rupert gelernt habe, der es allem Anschein nach als seine Aufgabe sah, mich kleine Eliza Doolittle zu erziehen, als sei er Henry Higgins höchstpersönlich).
Bei ihr gibt es nur Extreme und maßlose Übertreibung. Warum ein Blatt vor den Mund nehmen, wenn man die Dinge auch völlig unverblümt beim Namen nennen kann? Und zwar am besten so unerhört wie irgend möglich. Sie redet nur in Ausrufezeichen, und dauernd erzählt sie mir haarsträubende Geschichten, sei es über ein fantastisches Dessert
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