Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
Ähm, ich meine, mich … äh … umschauen würde.
Zögerlich tappe ich den Flur entlang in das geräumige Wohnzimmer und bestaune, noch immer mit großen Augen, den Rundumblick über die Stadt. Ganz anders als die Aussicht von meinem Fenster, sinniere ich mit Blick auf das Empire State Building, das so greifbar nahe scheint, als habe man es eigens zu diesem Zweck hier aufgestellt und sorgsam an den richtigen Platz gerückt – ein bisschen nach links, ein bisschen nach rechts –, damit es direkt vor dem Fenster steht.
Dabei war ich schon ganz aus dem Häuschen gewesen, als ich aus Robyns Zimmer einen flüchtigen Blick auf das Empire State Building erhascht hatte. (Bei dem Manöver hatte ich mir
allerdings beinahe den Hals verrenkt.) Fast ist mir das jetzt ein bisschen peinlich. Hier kommt man sich vor, als habe man exklusive Plätze in der ersten Reihe.
Ehrfürchtig wende ich schließlich den Blick ab und schleiche auf Zehenspitzen weiter, dann bleibe ich allerdings wie vom Donner gerührt stehen. In einer Nobelherberge wie dieser gibt es doch bestimmt irgendein superhypermodernes Sicherheitssystem. Was, wenn es hier Überwachungskameras gibt und ich die ganze Zeit unter Beobachtung stehe? Und ich latsche hier in schmuddeligen Flipflops über den blütenweißen Flokati … Entsetzt schaue ich an mir herunter und trete rasch einen Schritt zurück. Aber mein Fuß klebt irgendwie fest. Moment mal, was …
Kaugummi .
Auf dem weißen Flokati.
Mist.
Ich falle auf die Knie und beginne hektisch mit den Fingern an dem pappigen grauen Klumpen herumzupulen. Igitt. Das Ding ist widerlich klebrig und einfach fies. Ich ziehe fester, aber das Ding klebt wie Pattex im Teppich und lässt sich nicht rausziehen. Panik steigt in mir auf. Dreck! Ich weiß, vielleicht, wenn ich meine Nagelschere … Verzweifelt krame ich in meiner Handtasche herum. Ich schleppe so viel Krimskrams mit mir herum, dass ich bestimmt irgendwo eine dabeihabe … Aha, da ist sie ja!
Sofort mache ich mich mit einer der scharfen Klingen an den Teppichzotteln zu schaffen. Wenn ich das hier so abschabe … Akribisch bearbeite ich jedes einzelne Büschel, bis nach etlichen Minuten schließlich nur noch ein paar hartnäckige Reste übrig sind. Ich weiß, wie wäre es, wenn ich den Teppich da einfach ein bisschen stutze? Das fällt doch überhaupt nicht auf. Und sieht bestimmt aus wie neu …
Verdammt. Jetzt ist da ein Loch.
Ich habe ein Loch reingeschnitten!
Mir schlägt das Herz bis zum Hals beim Anblick meines missglückten Fassonschnitts, und in stummem Entsetzen starre ich wie versteinert auf den verstümmelten Teppich. Ach du lieber Himmel, Lucy! Da lässt man dich mal für fünf Minuten allein, und schon passiert so was ?
Verzweifelt versuche ich, mit den Fingern die Fransen so zu verstrubbeln, dass es nicht auffällt, aber es hat alles keinen Zweck – da ist definitiv ein Loch, wo eigentlich Zotteln sein sollten. Fast wie eine kahle Stelle auf einem Männerkopf.
Auf einmal kommt mir eine Idee. Ich weiß! Wie wäre es mit Überkämmen?
Mit den Fingern als Kamm versuche ich also, die Zotteln so zu arrangieren, dass man es nicht merkt, aber das ist gar nicht so einfach. Die Teppichbüschel sind widerspenstig und sträuben sich, immer wieder muss ich sie mit der Hand glattstreichen und dann ein paar weitere Strähnen abteilen und in Form biegen … Herrje, jetzt weiß ich auch, was Donald Trump morgens vor dem Spiegel durchmacht. Völlig entnervt zerre ich Büschel um Büschel hierhin und dorthin und zwar so lange, bis allem Anschein nach endlich alles verdeckt ist. Okay, jetzt muss es nur noch so liegen bleiben.
Wieder durchforste ich meine Handtasche, bis ich die kleine Dose Haarspray gefunden habe, mit deren Hilfe ich den Teppich dann großzügig einnebele. Perfekt. Da merkt kein Mensch den Unterschied.
Siegestrunken betrachte ich mein Meisterwerk. Ich bin hochzufrieden mit mir. Katastrophe abgewendet! Trotzdem sollte ich mich vielleicht lieber still hinsetzen und brav abwarten, bis der Eigentümer nach Hause kommt. Das wäre zumindest sicherer. Wir wollen ja nicht, dass noch ein Malheur passiert.
Barfuß tappe ich zum Sofa und hocke mich vorsichtig auf
eins der Polsterkissen, nur auf die Ecke, um es nicht zu zerdrücken. Wie ein Fächer liegen Zeitschriften auf dem Couchtisch ausgebreitet, doch ich widerstehe der Versuchung, sie durchzublättern. Wir wollten doch nichts mehr anfassen, schon vergessen? Ich setze mich einfach hier
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