Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
Vom Netzwerk:
ernsten Augen zog mich hoch und brachte mich mit geübten Griffen aus dem Zimmer. Er legte mich sogar auf mein Bett.
III
    Die Woche war fast zu Ende gegangen, da klopfte jemand frühmorgens wild an die Tür. Der Legionär mit den vielen Medaillen drang bei mir ein. »Razzia!« Er schleifte mich durch eine kleine Tür am Ende des Flurs eine Stiege hinauf in den Bodenraum. Dann lief er hinunter, um sich mit seinen Urlaubspapieren in mein Bett zu legen. Ich fand eine zweite Stiege, die aus dem Bodenraum aufs Dach führte. Ich hockte mich hinter eines der Schornsteinchen.
    Der Wind war so stark, daß ich mich festhalten mußte. Ich konnte die ganze Stadt sehen und die Berge, die Kirche Notre-Dame de la Garde, das blaue Viereck des Alten Hafens mit seiner eisernen Überführung und etwas später, sobald der Nebel verdunstete, das offene Meer mit den Inseln. Ich rutschte ein paar Meter weiter. Ich vergaß, was sich unter mir abspielen mochte, das Polizistengejage in allen Stockwerken. Ich sah mir die Joliette an mit ihren zahllosen Hangars und Molen. Doch lagen sie alle leer. Wie ich auch spähte, ich sah kaum ein einzigesrichtiges Schiff. Mir ging durch den Kopf, daß man gestern in allen Cafés geplappert hatte, es fahre dieser Tage ein Schiff nach Brasilien. Kein Platz für uns alle, dachte ich, die Arche Noah! Von jedem Tier nur ein Paar. Doch damals hat es auch reichen müssen, die Anordnung war weise, wir sind auch wieder vollzählig.
    Ich hörte ein schwaches Geräusch. Ich fuhr zurück. Doch war es nur ein Kätzchen. Es starrte mich wütend an. Wir starrten uns an, gebannt, beide zitternd vor Schreck. Ich fauchte, da sprang es aufs nächste Dach.
    Ein Autohupen kam von der Gasse. Ich spähte über den Dachrand. Die Polizisten kletterten auf ihr Auto. Zwei zerrten jemand aus der Hoteltür auf die Gasse, ich konnte an der Art des Zerrens erkennen, daß dieser Jemand durch Handschellen mit den beiden verbunden war. Und wie sie absausten, dachte ich froh und böse, daß dieser Jemand nicht ich war.
    Ich kletterte in mein Stockwerk hinunter. Im Zimmer zu meiner linken Wand umstand ein Haufe Hotelbewohner fragend und tröstend die schreiende Frau des Abgeführten. Sie war vom Weinen bereits so blasig und rot wie ein Kobold. Sie schrie: »Mein Mann kam gestern nacht aus dem Var. Wir wollen morgen nach Brasilien. Er kam sogar auf einen Sauf-conduit. Er hatte kein Aufenthaltsrecht für Marseille, wozu auch? Wir wollten ja morgen weg. Und wenn wir um die Erlaubnis gefragt hätten? Wir wären ja längst auf dem Meer vor der Antwort! Und jetzt verlieren wir die Billette, und unser Visum läuft ab.« Die Fragen verstummten und der Trost, weil es keinen vernünftigen gab. Man konnte den stumpfen Zügen der Legionäre, die auch dabei standen, ablesen, mit wieviel schreienden Frauen ihre Straßen von jeher gesäumt waren. Ich verstand kein Wort. Es war mir auch nicht verstehenswert, ein Gestrüpp von Unsinn, dürr und undurchdringlich.
IV
    Die nächsten Tage glaubte ich fast, mein eigenes Leben sei etwas zur Ruhe gekommen. Yvonne schickte mir das Saufconduit. Ich fuhr mit dem Schein in die Rue Louvois auf das Fremdenamt. Ich kam zum zweitenmal, diesmal amtlich an. Ich wurde gestempelt. Der Beamte fragte mich nach dem Zweck meines Hierseins. Ich sagte, bereits gewitzt, ich sei gekommen, um meine Abreise vorzubereiten. Er gab mir, zwecks Vorbereitung der Abreise, das Aufenthaltsrecht in Marseille für vier Wochen. Die mir gewährte Zeit kam mir lang vor. Ich war fast glücklich.
    Ich lebte ruhig und ziemlich allein in dieser Horde abfahrtssüchtiger Teufel. Ich trank meinen bitteren Kaffee-Ersatz oder meinen süßen Banjuls auf meinen hungrigen Magen und horchte entzückt auf das Hafengetratsch, das mich gar nichts anging. Es war schon kalt. Ich saß aber immer im Freien, im Winkel eines Fensters, geschützt vor dem Mistral, der einen von allen Seiten zugleich angriff. Das Stück blauen Wassers da unten am Ende der Cannebière, das also war der Rand unseres Erdteils, der Rand der Welt, die, wenn man will, vom Stillen Ozean, von Wladiwostok und China, bis hierher reicht. Sie heißt nicht umsonst die Alte Welt. Hier aber war sie zu Ende. Ich sah einen kleinen buckligen Kommis aus dem gegenüberliegenden Büro der Schiffahrtsgesellschaft heraustreten, um auf das dürre Täfelchen vor der Tür einen Schiffsnamen einzutragen, eine Abfahrtszeit. Sofort gab es hinter dem kleinen Buckel eine Schlange von Menschen, die alle hofften, gerade

Weitere Kostenlose Bücher