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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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mit diesem Schiff unseren Erdteil hinter sich zu lassen, ihr bisher gelebtes Leben, womöglich für immer den Tod.
    Wenn der Mistral allzu scharf blies, dann setzte ich mich hierher, in die Pizzaria, an diesen Tisch. Ich wunderte mich damals noch, daß eine Pizza nicht süß schmeckt, sondern nach Pfeffer, Oliven und Sardellen. Mir war leicht vor Hunger, ich war schwach und müde,fast immer ein wenig betrunken, denn ich hatte nur Geld für ein Stück Pizza und Roséwein. Ich hatte nur noch eine schwere Frage in diesem Leben zu lösen, sobald ich die Pizzaria betrat: Sollte ich mich auf den Platz setzen, auf dem Sie jetzt sitzen, mit dem Gesicht gegen den Hafen vor mir, oder auf den Platz, auf dem ich jetzt sitze, vor das offene Feuer? Denn beides hat seine Vorteile. Ich konnte stundenlang die weiße Häuserfront auf der anderen Seite des Alten Hafens betrachten hinter den Rahen der Fischerboote unter dem Abendhimmel. Ich konnte auch stundenlang zusehen, wie der Koch den Teig schlug und knetete, wie seine Arme hineintauchten in das Feuer, auf das man frisches Holz warf. Dann ging ich zu den Binnets hinauf, sie wohnen ja fünf Minuten weit. Binnets Freundin hatte gewürzten Reis für mich zurückgestellt oder auch eine Fischsuppe. Sie brachte Fingerhütchen voll echten Kaffees. Sie pflegte ihn aus der Monatsration herauszulesen, die ein Gemisch war von wenigen Kaffeebohnen und vielen Gerstenkörnern. Ich schnitzte etwas für den Jungen, damit er im Zusehen den Kopf an mich legte. Ich fühlte, wie mich das gewöhnliche Leben von allen Seiten umspannte, doch gleichzeitig fühlte ich auch, daß es für mich unerreichbar geworden war. Binnet kleidete sich unterdes für den Nachtdienst an. Wir stritten, worüber man sich damals stritt, ob den Deutschen die Landung in England gelingen werde, ob der Russenpakt von Dauer sei, ob Vichy den Deutschen Dakar als Flottenbasis abgebe.
    Ich machte damals auch die Bekanntschaft eines Mädchens. Sie hieß Nadine. Sie hatte früher in der Zuckerfabrik mit Binnets Freundin gearbeitet. Sie war durch Schönheit und Schlauheit hochgekommen. Sie war jetzt Verkäuferin in der Hutabteilung des Warenhauses Les Dames de Paris. Sie war groß gewachsen, sie ging sehr aufrecht, stolz trug sie den klugen, schmalen blonden Kopf, sie war auch immer sehr schön gekleidet in ihrem dunkelblauen Mantel. Ich sagte ihr gleich, daß ich arm sei.Sie sagte, das werde vorerst nichts schaden, sie habe sich nun einmal in mich verliebt, das sei ja nun auch keine Ehe, bis daß der Tod uns scheidet. Ich holte sie jeden Abend um sieben ab. Wie gut gefiel mir damals ihr schöner, großer, kräftig nachgezogener Mund, der starke Geruch von frischem Puder, der gelblich rosa wie Schmetterlingsstaub auf ihrem Gesicht und ihren Ohren lag, die echten, nicht aufgemalten Schatten äußerster Müdigkeit unter den hellen, harten Augen! Ich hungerte gern den ganzen Tag, um sie abends ins Regence mitzunehmen, ihr Lieblingscafé, wo leider der Kaffee zwei Francs kostete. Dann gab es jedesmal einen kleinen Streit, ob wir auf ihr oder mein Zimmer gehen sollten. Die Legionäre schnalzten mit der Zunge, wenn ich mit Nadine vorüberging. Ich wuchs in ihren Augen durch den Besitz dieser Freundin. Sie stimmten, kaum daß wir uns niederlegten, ihr wüstes Gesinge an, um uns zu feiern oder zu ärgern oder beides zugleich. Nadine fragte mich, wer diese Teufel denn seien und was sie zusammensängen. Wie hätte ich ihr erklären können, was ich mir selbst nicht erklärte, daß mich etwas fortzog in diese Horde, weg von dem schönen Mädchen, das ich zufällig in meinem Arm hielt.
    Binnet und ich hatten immer viel Spaß an unseren Frauen, von denen die eine so hell war wie die andere dunkel. Die Frauen aber waren eifersüchtig und konnten sich nicht leiden.
V
    Inzwischen war der Monat zu Ende gegangen, für den man mir Aufenthalt gewährt hatte. Ich fühlte mich schon ganz eingemeindet. Ich hatte ein Zimmer, einen Freund, eine Geliebte. Doch der Beamte im Fremdenamt in der Rue Louvois war anderer Meinung. Er sagte: »Sie müssen morgen abfahren. Wir dulden hier in Marseille nur Fremde, die uns den Beweis erbringen, daß sie die Abfahrtbeabsichtigen. Sie haben ja nicht einmal ein Visum, ja nicht einmal eine Aussicht auf ein Visum. Es liegt kein Grund vor, Ihren Aufenthalt zu verlängern.« Da fing ich an zu zittern. Ich zitterte vielleicht im tiefsten Innern, weil der Beamte recht hatte. Ich war gar nicht eingemeindet. Mein Dach war

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