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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Boulevard de la Madeleine geschleppt hatte. Seine Augen drangen in jeden Visenbittsteller ein. Und je nachdem es ihm angebracht schien, diesen Menschen sein Land betreten zu lassen, tat er alles, um Lücken und Blößen des Dossiers zu verringern, auf daß der Mensch reif sei für sein Visum.
    Mich fragte er kalt, was ich wünschte. Der Blick seiner fest auf mich gerichteten Augen, die vor Witz und Scharfsinn funkelten, riß mich plötzlich aus meiner Trägheit, er weckte in mir das Bewußtsein meines eigenen Witzes, meines eigenen Scharfsinns.
    »Ich komme«, sagte ich, »in der Angelegenheit Weidel.« Er erwiderte: »Stimmt. Der Name ist bei mir eingetragen.« Er rief den Namen, durch seine seltsame Betonung leicht verändert, dem dicken Mann zu, der in den Dossiers fummelte. Er wandte sich noch einmal an michmit den Worten: »Verzeihen Sie, wenn ich mich unterdes mit anderen beschäftige.« Ich wollte ihn sogleich unterbrechen, mein Paket auf den Tisch legen, abziehen. Er aber, der offenbar Unterbrechungen haßte, sah meine als Zeitverlust an und winkte mir ab. Es wurden dann auch schon nacheinander hereingerufen: vier Spanier auf einmal – sie kamen und gingen achselzuckend und offenbar unverrichteter Sache, der kleine Kanzler zuckte auch mit den Achseln –, die goldhaarige Frau, die ihren Liebsten suchte, der bei den Ebro-Brigaden gestanden hatte, der Kanzler bedeutete ihr, er habe keine Brigadeliste, wobei seine wachen Augen gewohnheitsmäßig die junge Person abschätzten, das Maß ihrer Zuneigung für den Vermißten – ein Kaufmann, schwitzend vor Visumdank – der Prestataire, dem die Staaten kein Visum gaben – ein Handwerker, der das Konsulat frisch streichen sollte. Zuletzt kam ein sehr junges Paar, fast ein Kinderpaar, Hand in Hand. Verstand ich auch nicht, was verhandelt wurde, verstand ich doch die Zeremonie. Sie bekamen Visa. Sie lächelten alle drei. Sie verbeugten sich voreinander. Ich neidete ihnen ihr Davonfliegen, Hand in Hand. Ich blieb allein auf dem Stuhl in der mexikanischen Kanzlei. Man hatte inzwischen dem Kanzler das Dossier gebracht. Er sagte: »Hier sind die Papiere Weidel.« In meinem Kopf entstand eine nebelhafte Erinnerung an einen Brief, den ich in Paris gelesen hatte. Ich starrte auf die Papiere auf dem Schreibtisch, die von dem Toten übrig waren. Visum zu Visum, Papier zu Papier, Dossier zu Dossier. In vollkommener und gewisser Hoffnung.
    Ich wurde mir plötzlich einer winzigen Überlegenheit über den Kanzler bewußt. Einem lebenden Weidel wäre er überlegen gewesen, den hätte er durchschaut, der hätte ihn belustigt. Jetzt aber war es für mich belustigend, wie er genau das Dossier studierte mit dem überflüssigsten Scharfsinn. Ein Schatten unter dem Reigen der Visumantragsteller, ein Schatten, der glatt verzichtete. Anstatt ihn sofort aufzuklären, überließ ich ihn einen Augenblick seinerzwecklosen Beschäftigung. Bis das Telefon läutete – »Nein!« rief der Kanzler, selbst am Telefon funkelten seine Augen, »die Bestätigung meiner Regierung ist noch nicht eingetroffen. – Dieser Fall«, sagte er plötzlich zu mir, »ähnelt stark dem Ihren.«
    Ich sagte erstaunt: »Verzeihen Sie, Sie irren sich. Mein Name ist Seidler. Ich bin nur gekommen –« Ich wollte alles genau erklären. Er aber, langen Erklärungen abhold, unterbrach mich zornig: »Aber ja, das weiß ich.« Er hielt die ganze Zeit über den Zettel mit meinem Namen und meinem Anliegen zwischen zwei Finger geklemmt. »Sie können gleichfalls, wie ich soeben am Telefon einem Ihrer Kollegen bereits zum zehnten Male erklärt habe, nur dann Ihr Visum ausgestellt bekommen, wenn meine Regierung Ihnen bestätigt, Ihr Paßname Seidler sei gleich mit dem Schriftstellernamen Weidel, was meine Regierung tun kann, wenn für Ihre Identität gebürgt wird.« Mein Kopf fing bei dieser Erklärung zu surren an wie ein Draht, den der Wind streicht. Mein eigenes Läutewerk, eine Art Selbstwarnung, die bei mir immer einsetzt, ehe mir selbst noch bewußt wird, daß ich vielleicht im Begriffe bin, etwas zu unternehmen, was mein augenblickliches Leben zerstören kann, ja zerstören soll.
    Ich selbst erwiderte ihm ganz ordnungsgemäß: »Bitte, hören Sie mich doch erst an! Es handelt sich hier um etwas anderes. Ich habe schon einmal alles Ihrem Konsul in Paris erklärt. Hier ist ein Bündel Papiere, Manuskripte, Briefschaften –« Er machte eine Bewegung der Ungeduld und des Ärgers. »Sie können mir vorlegen, was Sie wollen«,

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