Transit
gegangen. Ich machte mir immer noch keine Sorgen. Bei großem Hunger ging ich zu Binnets. Bei kleinem Hunger rauchte ich. Ich setzte mich nach dem nicht gegessenen Mittagessen vor das billigste Café. Der Kaffee-Ersatz war fürchterlich bitter und fürchterlich süß das Sacharin, trotzdem war ich damals zufrieden, ich war frei, mein Zimmer war für den Monat vorausbezahlt, ich war am Leben geblieben, ein dreifaches Glück, das wenige mit mir teilten.
Vor meinen Augen strömte sie an, mit ihren zerrissenen Fahnen aller Nationen und Glauben, die Vorhut der Flüchtlinge. Sie hatten ganz Europa durchflüchtet, doch jetzt vor dem schmalen, blauen Wasser, das unschuldig zwischen den Häusern glitzerte, war ihre Weisheit zu Ende. Denn keine Schiffe, nur eine schwache Hoffnung auf Schiffe bedeuteten die mit Kreide notierten Namen, die auch immer sofort ausgelöscht wurden, weil irgendeine Meerenge vermint oder eine neue Küste beschossen wurde. Schon rückte der Tod immer dichter nach mit seinernoch immer unversehrten, knarrenden Hakenkreuzfahne. Mir aber, vielleicht weil ich ihm schon einmal begegnet war und ihn überholt hatte, mir schien es, auch er, der Tod, sei seinerseits auf der Flucht. Wer aber war ihm auf den Fersen? Mir schien es, ich brauchte nur Zeit zum Warten, und ich könne auch ihn überleben.
Ich zuckte zusammen, als jemand meine Schulter berührte: mein Kapellmeister von der Kurkapelle in Carácas. Er trug bei Tag eine dunkle Sonnenbrille, die seine Totenkopf-Augenhöhlen bodenlos machte. »Da sind Sie ja immer noch«, sagte er. Ich erwiderte: »Sie doch auch.« – »Man hat mir gestern mein Visa de sortie gegeben. Eine halbe Woche zu spät.« – »Zu spät?« – »Weil mir mein Visum Anfang der Woche ablief. Der Konsul verlängert es nur, wenn mir meine Kapelle den Arbeitsvertrag erneuert.« – »Das tut sie jetzt nicht mehr?« Er sagte ganz erschrocken: »Warum nicht? Doch. Die Komitees haben telegrafiert. Wenn ich’s nur in einem Monat schaffe. Sonst ist mir wieder das Visa de sortie abgelaufen. Sie werden alles am eigenen Leib verspüren.« – »Ich? Wozu?« Er lachte und ging weiter. Er ging so greisenhaft langsam, daß mir vorkam, er könne die Cannebière nie überqueren, geschweige denn Länder und Meere. Ich döste in der Sonne. Wie lange läßt mich der Wirt bei einem einzigen kleinen Kaffee sitzen? Wovon bin ich denn erschöpft? Ich bin doch jung. Vielleicht haben doch die Leute recht, die auf Schiffe steigen. Ich würde schon fertig werden, ich, mit diesen Dämonen, den Konsuln. Da gab es mir einen Ruck.
Aus dem gegenüberliegenden Café, dem Mont Vertoux, kam das Paulchen heraus. Er sah gut aus. Er war neu gekleidet. Ich sprang über die Cannebière, ich zog ihn an meinen Tisch. Er war zwar nie mein Freund, keineswegs. Er war aber mit mir im Lager gewesen, er war auch mit mir in Paris gewesen unter den Deutschen. Jetzt hätte ich ihn beinahe geküßt. Er aber sah mich an – so unverbindlich. Er war auch eilig. »Das Komitee«, sagte er, »schließtum zwölf. Was gibt’s denn schon wieder?« – Schon wieder? dachte ich. Ich verstand, daß er gar nicht begriff, daß das unser erstes Wiedersehen war, so viele Menschen sah er zum erstenmal wieder an jedem Tag. »Wie geht’s dir denn, Paulchen?« Da wurde er munter. »Furchtbar! Ich bin in der furchtbarsten Lage.« Er setzte sich an meinen Tisch, da er merkte, er hatte in mir einen Mann gefunden, dem er alles noch einmal erzählen konnte. »Ich machte, als ich hier ankam, mein Gesuch um Aufenthaltserlaubnis. Ich wollte es ganz besonders korrekt machen. Ich wollte durchaus in Ordnung sein. Ich reichte dieses Gesuch auf dem Fremdenamt ein. Und weil mir dazu ein Beamter riet, reichte ich ein zweites Gesuch bei dem Präfekten persönlich ein. Mehr, dachte ich, kann man nicht tun. Ich bekam auch auf beide Gesuche Antwort. Aber was für eine Antwort! Das Fremdenamt gab mir den neuen Ausweis, hier sieh, da steht draufgedruckt: ›Zwangsaufenthalt in Marseille.‹ Die Präfektur ließ mich rufen und druckte auf meine alte Karte: ›Muß zurück in sein Ursprungsdepartement.‹« Ich lachte los. Das Paulchen sagte fast weinend: »Du hast gut lachen. Ich aber, ich muß aus dem Land. Ich bin auf der Gefährdetenliste. Man gibt mir aber mein Visa de sortie nicht. Denn auf der Präfektur bin ich ausgewiesen.« – »Dann fahr doch zurück in dein letztes Departement und komm von neuem hier an!« – »Das kann ich doch nicht«, klagte Paul,
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