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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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begann er, wobei er mir in die Augen sah. Sein wacher, scharfsinniger Blick erregte in mir das starke Gefühl meiner eigenen Wachheit, den unwiderstehlichen Wunsch, mich an einem ebenbürtigen Scharfsinn zu messen. »Lassen Sie uns nicht unnötig Zeit verlieren. Die Zeit ist ja ebenso kostbar für Sie wie für mich. Sie müssen sofort die richtigen Schritte tun.« Ich stand auf. Ich nahm das Bündel Papiere. Er ließ mich nicht aus den Augen.Ich sah jetzt fest zurück in die seinen. Ich fragte: »Was soll ich also für Schritte unternehmen? Bitte, raten Sie mir!« Er sagte: »Ich wiederhole zum letztenmal: Veranlassen Sie dieselben Freunde, die für das Visum vorstellig wurden, bei meiner Regierung zu bürgen für die Identität Ihres Paßnamens Seidler mit dem Schriftstellernamen Weidel.«
    Ich bedankte mich für den Rat. Wir zogen unsere Blicke auseinander – nicht ohne Anstrengung.
II
    Ich ging in tiefen Gedanken heim. Ich meine damit, ich ging in jenes Hotel, in dem ich seit gestern abend wohnte. Ich sah es zum erstenmal aufmerksam an am hellen Tag. Die Gasse war hoch und eng, doch mir gefiel sie. Ihr Name gefiel mir auch. Sie hieß Rue de la Providence. Das Hotel hieß nach der Gasse. Ich hatte mich sehr gefreut, ein Zimmer für mich allein zu haben. Jetzt merkte ich, daß ich erst wieder lernen mußte, in einem Zimmer allein zu sein. Ich trat ans Fenster und sah hinunter. Man hatte gerade die Wasserspülung der Gasse geöffnet, ein scharfer Strahl Wasser schleuste eine ganze Flottille von Schmutz das Pflaster abwärts. Was sollte ich wohl in diesem Zimmer anfangen? Was sollten mir vier Wände? Auf eine Razzia warten? Ich fühlte stark, das einzige, was ich auf Erden noch wirklich fürchtete, war der Verlust meiner Freiheit. Ich würde mich kein drittes Mal mehr einsperren lassen, unter keinen Umständen. Der alte Narr gestern abend, der Kapellmeister von Caracas, hatte recht gehabt. Man mußte weg von hier, und wenn nicht weg, dann brauchte man ein unzweideutiges Recht, zu bleiben. Ich aber gehörte keineswegs zu den Auserwählten, ich hatte kein Visum, kein Transit und andererseits kein Aufenthaltsrecht. Gedanken flogen mir zu, ich vertrieb sie – ein schwaches Surren in meinem Kopf – das nachgedunkelteWappenschild – des kleinen Kanzlers überwacher, durchtriebener Blick. Ich konnte das Alleinsein nicht mehr ertragen. Wie kühl man mich auch gestern abend empfangen hatte, ich wollte es noch einmal mit dem Georg Binnet versuchen, dem einzigen Mann, den ich hier kannte. Ich ging in die Rue du Chevalier Roux. Ich packte die bronzene Faust, ich ließ sie aufklopfen.
    Selbst wenn ich Sie jetzt noch einmal mit der Familie Binnet langweile – wir stehen schon wieder dicht vor der Hauptsache, Sie werden dann sehen, wie manche Schatten durch alle Türen hineinschlüpfen.
    Georg Binnet war der einzige Mensch, der mich nicht fragte, wohin ich wolle, sondern woher ich käme. Ich erzählte ihm sofort alles, was ich Ihnen bis jetzt erzählt habe. Nur eins ließ ich völlig aus: die Angelegenheit Weidel. Was ging auch den Binnet ein Fremder an, der sich in Paris vergiftet hatte beim Einmarsch der Deutschen? Georg hörte mir aufmerksam zu. Er war ein mittelgroßer, kräftiger Mensch mit grauen Augen von nordfranzösischer Art. Er war nach Marseille verschlagen worden durch blöde Anordnungen seiner Fabrik, die ihn im Betrieb mobilisiert gehalten, zur Evakuation befohlen, sich aber später aufgelöst und die Belegschaft im Stich gelassen hatte. Er machte jetzt schlechtbezahlten Nachtdienst in einer Mühle. Doch außerhalb seiner Arbeit lebte er frei, heiter, locker. Er pflegte seinen Wundervogel von Freundin und ihren Knaben, doch diesen sacht, damit er ihn ja nicht verletze, denn dieses Kind war sehr stolz.
    Ich hatte vom ersten Augenblick an zu dem Knaben eine schmerzhafte Zuneigung. Er saß am Tisch und hörte meinen Berichten schweigend zu. Ich gab mir um seinethalben Mühe. Wozu leuchteten seine Augen? Sie würden nie etwas anderes zu sehen bekommen als eben diese Welt. Wozu war seine Haut aus dunklem Gold? Das Mädchen, um das er einmal seine Arme legen würde, war sicher aus anderem Stoff. Wozu die Aufmerksamkeit, mit der er unseren Gesprächen folgte – so angestrengt, daßihm die Lippen zitterten? Er hörte von uns zwei Erwachsenen auch nichts anderes als die wirren Erfahrungen dieses Jahres, Verrat und Unordnung.
    An diesem Abend lud mich Binnets Geliebte ein, mit ihnen zu essen. Es gab eine große Schüssel

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