Transit
Hangars gab es einzelne Flächen Wasser, etwas heller als der Himmel. Von der äußersten, mit einem Leuchtturm besteckten Spitze der Corniche bis zur linken Mole der Joliette lief dünn und unscheinbar, nur wahrnehmbar durch die größere Helligkeit des Wassers, jene Linie, die unversehrbar war und unerreichbar, die keine Abgrenzung war, sondern sich allem entzieht. Voneinem Augenblick zum anderen überwältigte mich der Wunsch, abzufahren. Wenn ich nur wollte, ich könnte abfahren. Ich würde alles erreichen. Meine Abfahrt würde auch anders vonstatten gehen, furchtlos, die alte ehrliche Abfahrt, die dem Menschen allein gemäß ist, jenem feinen Strich entgegen. Ich schrak zusammen. Als ich mich nach der Frau umdrehte, war sie schon weg. Auch die Treppe war leer, als hätte sie mich mit Absicht heraufgelockt.
X
Ich kehrte zurück in die Rue de la Providence. Ich war noch keineswegs müde. Was wollte ich tun? Lesen? Das hatte ich einmal getan an einem ähnlichen leeren Abend. Nie wieder! Ich spürte den alten Unwillen meiner Knabenzeit gegen Bücher, die Scham vor bloß erfundenem, gar nicht gültigem Leben. Wenn etwas erfunden werden mußte, wenn dieses zusammengeschusterte Leben gar zu dürftig war, dann wollte ich selbst der Erfinder sein, doch nicht auf Papier. Doch mußte ich jetzt sofort etwas unternehmen in meinem unerträglich kahlen Zimmer. Einen Brief schreiben? Es gab auf der Welt keinen Menschen mehr, an den ich hätte schreiben können. Ich hätte vielleicht meiner Mutter geschrieben – vielleicht war sie lange tot. Die Grenzen waren schon lange gesperrt. Zurück in ein Café gehen? Bin ich denn schon solchermaßen von dem Gewimmel angesteckt, daß ich mitwimmeln muß? Dann fing ich doch an, einen Brief zu schreiben. Ich schrieb an Binnets Vetter Marcel. Er möge ja bald meine Sache bei dem Onkel zur Sprache bringen. Er möge ihm ja erklären, ich sei ein Saarländer. Man müsse ja schließlich auch für mich einen Winkel finden auf einer großen Farm. Ich lebte zwar in Marseille dahin, die Stadt sei auch nach meinem Herzen, gar manches halte mich fest – An dieser Stelle brach ich ab. Es klopftean die Tür. Der kleine Legionär trat herein, der mich in meiner zweiten Marseiller Nacht zu Bett gebracht hatte. Seine Brust war mit Orden bedeckt – den Burnus hatte er abgelegt. Ich hatte ihm nichts anderes anzubieten als ein aufgerissenes Päckchen Zigaretten Gaulois Bleu. Er fragte, ob er mich störe. Und ich, als Antwort, zerriß den angefangenen Brief. Er setzte sich auf mein Bett. Er war viel klüger als ich: er hatte den törichten, aussichtslosen Einzelkampf gegen die Übermacht des Alleinseins aufgegeben, sobald er den Lichtspalt unter der Tür bemerkt hatte. Er gestand mir, was ich längst wußte: »Ich habe geglaubt, das Paradies sei ein Zimmer allein. Und nun sind die anderen alle weg, die Rotte ist ausgekehrt, und wie ich sie vermisse!« – »Wo sind sie hin?« – »Nach Deutschland zurückverfrachtet. Ich glaube kaum, daß man dort ein Kalb für die verlorenen Söhne schlachten wird. Man wird sie in einen besonders widerlichen Betrieb einpferchen oder auf den gefährdetsten Punkt der Front stellen.« Er saß ganz aufrecht auf meinem Bettrand, ein strammer kleiner Mann in einer Spirale von Rauch. Er erzählte: »Die Deutschen kamen nach Sidibel-Abbes, sie setzten Kommissionen ein. In deutschem Stil. Sie erließen einen Aufruf. Die Legionäre deutscher Geburt möchten sich melden, warum sie auch immer geflohen seien. Das Vaterland und so weiter. Die Großmut der Volksgemeinschaft und so weiter. Da meldeten sich die Deutschen der Fremdenlegion, gemeine Soldaten und mittlere Chargen. Die Deutschen aber prüften genau, ungeachtet des Aufrufs, und nahmen dann doch nur den kleinsten Teil. Die übrigen schickten sie wieder zurück. Die aber hatten nun ihren französischen Eid gebrochen, weil sie zu den Deutschen gegangen waren. Die Deutschen hatten sie nicht mehr genommen, da machten ihnen jetzt die Franzosen den Prozeß. Sie kamen alle zur Strafe in afrikanische Bergwerke.« Die Geschichte mißfiel mir. Ich fragte beklommen meinen Gast, wie er denn bei lebendigem Leib die Kommission passiert hätte. »Bei mir ist es etwas anderes«,sagte er, »ich bin Jude. Für mich kam die Großmut der Volksgemeinschaft erst gar nicht in Betracht.« Ich fragte, warum er denn in die Fremdenlegion gegangen sei. Die Frage schien einen ganzen Schwarm unliebsamer Gedanken in seinem Kopf aufzustöbern. Er sagte:
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