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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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»Ich geriet durch den Krieg hinein, auf Kriegsdauer verpflichtet. Es gibt da eine lange Geschichte, mit der ich Sie nicht langweilen will. Durch meine Verwundung und meine Orden kam ich denn auch frei. Erzählen Sie mir jetzt lieber, was aus dem schönen Mädchen geworden ist, um das ich Sie in der ersten Woche beneidet habe.« Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam, daß er Nadine meinte. Er habe sich, versicherte er, die Augen nach ihr wund gesehen, sobald er gemerkt habe, daß sie nicht mehr meine Geliebte war. Er sprach von Nadine, wie ich selbst hätte sprechen können. Mir jagten seine verliebten Worte einen eisigen Schrecken ein, als bliese ein Windstoß auch in den Nebel meiner eigenen Verzauberung.

Fünftes Kapitel
I
    Ich traf die Frau in den nächsten Tagen nicht mehr. Sie hatte vielleicht ihre nutzlose Suche aufgegeben, vielleicht den gefunden, den sie suchte. Bald drohte mein Herz, sie sei bereits auf dem Meer, vielleicht auf jenem Martiniqueschiff, über dessen angebliche Abfahrt die Menschen in dieser Woche gerätselt hatten. Bald drohte mein Herz, ich würde sie wiederfinden, wo immer, wie immer. Ich zwang mich, das Warten aufzugeben. Doch die Gewohnheit behielt ich bei, mit dem Gesicht zur Tür zu sitzen.
    Schon kannte ich viele Gesichter in dem ununterbrochenen Strom der Abfahrtsbesessenen. Der Strom schwoll an, Tag um Tag, ja von Stunde zu Stunde. Und keine Netze von Polizisten und keine Razzien, und keine drohenden Konzentrationslager und keine noch so harten Verordnungen des Präfekten von Bouches-du-Rhône konnten verhindern, daß der Zug abgeschiedener Seelen in Überzahl blieb gegen die Lebenden, die hier ihre festen Siedlungen hatten. Für Abgeschiedene hielt ich sie, die ihre wirklichen Leben in ihren verlorenen Ländern gelassen hatten, in den Stacheldrähten von Gurs und Vernet, auf spanischen Schlachtfeldern, in faschistischen Kerkern und in den verbrannten Städten des Nordens. Sie mochten sich noch so lebendig stellen mit ihren verwegenen Plänen, mit ihren bunten Drapierungen, mit ihren Visen auf seltsame Länder, mit ihren Transitstempeln. Mich konnte nichts täuschen über die Art ihrer Überfahrt. Ich staunte nur, daß der Präfekt und die Herren und Beamtender Stadt sich noch immer weiter so stellten, als sei der Strom Abgeschiedener etwas, was man mit Menschenmacht eindämmen könne. Ich fürchtete mich beim Zusehen, ich könnte in diesen Strom hineingeraten, ich, der ich mich noch am Leben fühlte, durchaus zum Bleiben gewillt, als könnte ich in den Strom gerissen werden durch einen Gewaltstreich oder durch eine Verlockung.
    Ich war mit meiner Bestätigung auf das Amt gelaufen, das zuständig war für Fremde mit vorübergehendem Aufenthalt. Der fette Beamte musterte uns, ein Häuflein Menschen mit allerhand Visenbestätigungen in den Händen und abgelaufenen Sauf-conduits und Lagerentlassungsscheinen, als kämen wir nicht von anderen Ländern, sondern von anderen Sternen, und nur für den seinen, den eigenen, bevorzugten, gelte das Vorzugsrecht eines ewigen Aufenthalts. Man schickte mich in ein anderes Amt, weil ein derartig verlängerter Aufenthalt entweder unstatthaft oder in ein beschränktes Aufenthaltsrecht zu verwandeln sei.
    Sie kennen ja selbst die Rue Stanislas Lorein. Sie haben ja selbst bei Regen und Schnee in der seltsamsten Menschenschlange gewartet, die in diesem furchtbaren brotarmen Winter um Nahrung anstand, ich meine um die Vorbedingung der Nahrung, das Recht, sie an diesem Ort zu verzehren. Da warteten tschechische Prestataires und polnische, die vollständig überflüssig geworden waren, man brauchte sie nicht einmal mehr als Kanonenfutter, man hatte sich ja mit dem Feind verglichen; zerlumptes Volk, das seine nutzlosen Waffen an einem Ort niedergelegt hatte, an dem es nicht zuständig war. Alle diese Heerscharen, die zufällig noch ein wenig am Leben geblieben waren oder sich nur so stellten, sollten unbedingt registriert werden. Da fand ich meinen kleinen Kapellmeister wieder, klappernd vor Kälte, als sei er aus einem Grab gekrochen, um noch einmal mit den Lebenden registriert zu werden, da fand ich den Fremdenlegionär, meinen Zimmernachbarn, da fand ich eineZigeunerin, ihre Kinder im Rückentuch, da fand ich mich selbst.
    Sie kennen ja auch die Höhle von innen. Sie kennen die Schar gelockerter bebrillter Kobolde, die mit ihren Pfötchen, mit ihren rotlackierten Klauen die Dossiers aus den Wänden herauskratzen, und je nachdem, ob man an einen

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