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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Erkennen statt an die Nähe an eine gewisse Strecke Entfernung gebunden. Ich machte keinerleiAnstrengung, mich ihr zu erkennen zu geben. Mir war eiskalt. Inzwischen wurde die Pizza gebracht, so groß wie ein kleines Wagenrad. Der Kellner schnitt für jeden von uns ein Dreieck heraus. Der Arzt sagte: »So iß doch etwas, Marie, du siehst müde aus.« Sie erwiderte: »Es war wieder nichts.« Er nahm ihre Hand. Ich spürte keine Eifersucht. Ich hatte nur das Gefühl, ich müsse rechtzeitig etwas wegnehmen, was ihm nicht zustand, womit er unmöglich umgehen konnte. Ich faßte ihn wirklich am Handgelenk. Ich drehte ein wenig seine Hand, so daß die Frau ihre Finger herauszog, ich aber das Zifferblatt seiner Armbanduhr zu sehen bekam. Ich hatte mich wieder in der Gewalt und teilte ihm mit, ich müsse gleich weggehen. Er sagte enttäuscht, er habe gehofft, mein Abend sei frei. Marie habe auch keinen Hunger, er könne unmöglich die Pizza allein essen, er werde sogar für mich Brotkarten auslegen. Vor allem müsse ich noch Marie die ganze Sache erzählen. Er schenkte mir Rosè ein. Nachdem ich auch dieses Glas hinuntergetrunken hatte, wurde mir klar, daß die Frau, wenn ich jetzt von hier wegging, mir keineswegs folgen, sondern bei dem Arzt sitzen bleiben würde. Ich trank also auch das Glas aus, goß es mir rasch wieder voll. Ich erzählte die ganze lange, belanglose Sache zum viertenmal. Die Frau hörte sich die Sache an, wie sie erzählt wurde, mit vollkommener Gleichgültigkeit. Der Arzt aber konnte sich an dem Unsinn nicht satt hören. Denn Unsinn, Unsinn, Unsinn war dieser Kraftaufwand, um eine brennende Stadt mit einer anderen brennenden Stadt zu vertauschen, das Umsteigen von einem Rettungsboot auf das andere, auf dem bodenlosen Meer. Ich sagte: »Sie würden da aber allein fahren müssen. Für eine Frau ist diese Art Reise nichts, kommt gar nicht in Betracht.« Darauf sagte sie rasch: »Für mich kommt alles in Betracht. Ich will nur von hier weg. Wie, das ist mir gleich. Ich fürchte mich vor nichts.« – »Das hat mit Furcht überhaupt nichts zu tun. Einen Mann kann man überall verstecken. Man kann ihn unterwegsabsetzen. Die Leute würden das Risiko gar nicht erst übernehmen.« Wir sahen uns zum erstenmal in die Augen. Ich glaube, daß sie mich jetzt auch zum erstenmal erkannte. Ich meine nicht, wiedererkannte als einen, dem sie schon oft begegnet war, vielmehr als den Fremden, der ihren Weg unwiderruflich kreuzt, zum Guten oder zum Bösen.
    Der Arzt ließ die Flasche Rosé, die ich fast allein geleert hatte, mit einer vollen vertauschen. Und während ich trank, erwog ich ihre Worte: »Ich will fort von hier, wie, ist mir gleich.« Aus ihrem Mund erschien mir dieses Geständnis, obwohl ich es hundertmal täglich hörte, frisch und neu in seiner Torheit und Selbstverständlichkeit, als hätte sie mir angesichts dieses offenen Feuers, angesichts dieser angeschnittenen Pizza versichert, daß der Tod einmal auch ihre Züge zerstören würde. Ich dachte sogar einen Augenblick auch daran, an diese einfachste Art von Zerstörung, das unvermeidliche Ende alles Zerstörbaren. Ihr kleines, bleiches Gesicht tauchte dicht vor mir auf, noch unversehrt, in einer roséfarbenen, roséglitzernden Welt. Der Arzt schnappte wieder nach ihrer Hand. Ich machte rechtzeitig mit meinem Ellenbogen eine Schranke, indem ich nach der Flasche griff. Worauf der Arzt sagte: »Du würdest ja sowieso zu diesem Termin noch nicht fahren können. Und wenn, dann kannst du ja ebensogut über Spanien fahren.« Ich goß uns dreien ein. Und während ich selbst mein Glas austrank, wurde mir klar, daß ich den Mann von dem Tisch wegschieben mußte, aus der Pizzaria weg, aus der Stadt, über das Meer, möglichst rasch und weit.
VII
    Ich heftete mich dem Paar an die Fersen, ich will es gestehen. Ich schämte mich nicht, denn wenn ich es heute bedenke, ich war ihnen eher willkommen als lästig. MeinVorwand war die Passage nach Oran. Ich verhandelte mit dem Arzt und dem Mausemännchen und auch mit Bombello, den ich inzwischen zu Gesicht bekam. Es war ein magerer schnurrbärtiger Korse von spießerhaftem Aussehen; er hatte kaum eine andere Passage hinter sich als die von Ajaccio nach Marseille. Ich sagte dem Arzt, der Kargo könne ebensogut noch wochenlang steckenbleiben wie plötzlich abgehen von einer Stunde zur andern, ob er unwiderruflich bereit sei? Er erwiderte mit gesenkten Augen, er habe sich durchgerungen, er sei bereit. Er rechne damit, Marie in

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