Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
Vom Netzwerk:
Gesicht sucht man mehr als Visenberatung. Ich gab das Aufleuchten ihres Gesichts, wenn ich jetzt auf die Füße spränge und laut »Marie« riefe, gern drein für solche hartnäckige Suche, deren Zeuge ich sein durfte.
    Nur eins, und das störte mich grimmig: Wie lange würde sie suchen? Kein Zweifel, sie suchte jetzt stark, doch wichtiger war die Frage: Wie lange? Noch fünf Minuten? Bis zum Mittagessen? Die Woche über? Noch ein Jahr?
    Sie konnte sicher nicht immer weiter den suchen, mit dem sie ein purer Zufall zusammengeführt hatte, auf einer Bank in Köln am Rhein oder auf dem Cours d’Assas vor dem mexikanischen Konsulat. Womit eine Zwischenzeit ausfüllen, von der sie nicht wußte, ob sie Stundendauerte oder ewig? Doch immer nur mit demselben Spiel, so täuschend gespielt, daß es ernst schien. Wenn du, Marie, dem Freund in dem Arm hängst, einmal, zehnmal, das kann ich ertragen. Es ist mir nicht wohl dabei, doch ich kann es ertragen. Doch was ich durchaus nicht ertragen kann, ist, daß dieses Spiel bis zu Ende gehen soll, in guten und in schlechten Tagen, bis daß der Tod auch euch scheidet.
    Schon hatte Marie den Raum verlassen. Sie überquerte bereits den Place Saint-Ferréol. Um ihre Suche fortzusetzen? Um endgültig abzubrechen?
    Die Sicht wurde mir versperrt durch den Mann, der vor meinen Tisch trat: mein kahlköpfiger Mittransitär. Er sagte: »Ich sah Sie zwar schon hier eintreten, doch sahen Sie mir zunächst nicht gerade durstig auf Gesellschaft aus.«
    Ich bat ihn rasch, sich zu setzen. In diesem Augenblick freilich nur, um den Platz übersehen zu können. Er war leer. Nicht nur unermeßliche Leere schien den Platz zu erfüllen trotz seiner Zeitungsbuden und frierenden Bäume, sondern unermeßliche Zeit. Vermischt mit dem Staub, schien der Wind ungeheure Stöße von Zeit daherzufegen. Marie, so schien es mir, hatte sich nicht nur spurlos entfernt, sondern zeitlos, für jetzt und für immer – Die Stimme des anderen schlug an mein Ohr: »Sie sind, wie ich sehe, Besitzer eines Transits.« Ich fuhr zusammen, ich hatte die ganze Zeit über den steifen Bogen in meiner Hand behalten mit dem törichten roten Bändchen in der oberen rechten Ecke.
    Mein Begleiter fuhr fort: »Ich auch, aber es nützt mir zu nichts.« Er holte sein Glas an meinen Tisch und bestellte »Fine« für sich und mich. Ich fühlte, wie er mich schärfer ansah mit seinen kalten, hellgrauen Augen und dann meinem Blick folgte. Ein Menschenschub kam aus der Präfektur und wimmelte auf dem Platz, auf dem die Zeit plötzlich stillstand. Es schien kein Mittelding zwischen beiden zu geben: Jagd und völliger Stillstand. Dochfühlte ich plötzlich stark wie ein Trost, daß ich gar nicht allein war mit diesem Mann am Tisch, welcher Art er auch sein mochte. Ich wandte mich an ihn: »Warum nützt Ihnen denn Ihr Transit nichts? Sie sehen mir aus wie einer, der seine Papiere zu nutzen versteht.«
    Ich trank und wartete, bis er von selbst erzählte: »Ich bin in einer Gegend geboren, die vor dem Weltkrieg zu Rußland gehörte, die nach dem Weltkrieg polnisch wurde. Mein Vater war Tierarzt. Er war tüchtig in seinem Fach. Obwohl er Jude war, bekam er eine halbamtliche Stelle auf einem Versuchsgut. Ich bin auf diesem Gut geboren. Warten Sie einen Augenblick, Sie werden sehen, was dieser Umstand heute mit meinem Transit zu tun hat. Das große Versuchsgut lag mit zwei kleineren Gütern zusammen sowie einer Mühle, zu der natürlich auch das Haus der Müllers gehörte. Der Mühlbach floß zwischen der Mühle und unserer Dienstwohnung. Um in das nächste Dorf zu gelangen, mußte man über den Bach und über zwei Hügelchen, die zwar winzig waren, aber so steil, daß der Himmel daran stieß.«
    Ich sagte, weil ich glaubte, er schweige aus Erinnerung: »Das muß schön gewesen sein.« – »Schön? Na, es war sicher auch schön. Ich beschreibe Ihnen die Landschaft jetzt nicht wegen ihrer Schönheit. Unser Gut, die zwei anderen Gutshöfe und die Wohnung des Müllers hatten alle zusammen zu wenig Einwohner, um als Dorf zu gelten. Sie wurden also zu jenem nächsten Dorf gerechnet, es hieß Pjarnitze. Die Angaben machte ich auch vor dem Konsul. Ich war exakt, ich glaubte mich ebenso exakt wie der Konsul, ich schrieb: Gehörte früher zur Gemeinde Pjarnitze. Der Konsul aber war doch noch exakter, seine Karte war doch noch exakter. Stellte sich also heraus, daß mein Heimatort, den ich nie mehr wiedergesehen habe, sich stark vergrößert hat, so daß er nach

Weitere Kostenlose Bücher