Transit
hatte. Wie ich bald gewahr wurde, gehörten all diese wartenden Menschen, etliche Frauen, Männer, Kinder, deren ich einige von dem letzten Wartetag wiedererkannte, sowie auch das alte, in sich versunkene Weib der gleichen Familie an, die aber heute hier vollzählig antrat. Alle, sogar die kleinsten Kinder, befanden sich im Augenblick meines Eintritts in großer gemeinsamer Erregung, alle bebten vor Schreck und Empörung; alle, Alte und Junge, flüsterten durcheinander oder bemühten sich wenigstens, zu flüstern, denn es gab immer eins, das dazwischen aufschrie oder aufseufzte oder aufschluchzte. Nur die Alte, um die sich alle drängten, saß reglos, als sei sie mumifiziert, mit allen Zeichen ihres Zerfalls und nahen Endes.
An der Tür lehnte, von diesen Menschen abgesondert, ein junger Herr, der mit seiner Baskenmütze spielte und lächelte. Er verstand, worum es ging, und es machte ihm sichtlich Spaß, und es war ihm einerlei. Aus dem Zimmer des Konsuls flog auf leichten Füßen, wie der Engel vom Throne des Herrn, jenes junge Geschöpf mit kleinen Brüsten und hellen Locken, das den ganzen Krieg, von aller Unbill behütet, auf einer rosigen Wolke verbracht hatte. Es stellte sich vor die Tür des zweiten Vorraumes und bedeutete der Familie in strengem und zugleich sanftem Ton, sich endlich zu entscheiden, im selben Ton, in dem auch ein Engel dieselben Seelen aufgefordert hätte, zu bereuen oder von dannen zu fahren. Darauf hoben alle ihre Hände, auch die kleinsten Kinder, seufzten und baten um einen Aufschub. Ich fragte den jungen Herrn mit der Baskenmütze, worum es hier gehe.
»Das sind lauter Kinder, Enkel, Urenkel und sonstige Anverwandte dieser uralten Frau. Ihre Papiere sind vollständig in Ordnung. Der Konsul will sofort seine Unterschrift geben. Er will sie alle einwandern lassen, bis auf die Alte. Der Konsulatsarzt hat ihr nämlich bescheinigt, daß sie in höchstens zwei Monaten sterben wird. Undsolche Leute läßt man auf kein amerikanisches Schiff: wozu denn auch? Die ganze Familie aber, wie diese Art Leute nun einmal verrannt sind, will entweder mit der Alten reisen, damit sie bei ihnen sterben kann, oder alle wollen bei ihr zurückbleiben, bis sie gestorben ist. Wenn sie nun alle hier bleiben, bedenken Sie doch, dann stirbt zwar die Alte sowieso, die Visen aber verfallen, die Transits verfallen, und wie Sie wissen, sperrt man in Frankreich die Leute gern ein, die alle Visen haben und alle Transits, aber doch nicht abhauen, und sie gehören ja auch dann eingesperrt, mindestens ins Irrenhaus.«
Darauf erschien die Botin des Konsuls zum zweitenmal, ich bemerkte, wie zart ihre Haut war, doch ihre Stimme war streng. Aus der Familie erhob sich ein Männlein, in dem ich ihr Oberhaupt nie erkannt hätte, und verkündete ruhig die Entscheidung in einem Gemisch aus den Sprachen der Länder, die er mit den Seinen durchkreuzt hatte. Sie hatten sich entschlossen, solange die Alte lebte, bei ihr zu bleiben. Denn wenn er hier bei ihr bliebe als ihr ältester Sohn, seine Frau aber ziehe weg mit den Söhnen, was sei denn da den Seinen geholfen ohne ihn? Oder wenn die jüngste Schwester zurückbleibe, die sich eben erst verheiratet habe und ihr erstes Kind erwarte, wie könne sie hier gebären ohne den Mann, der sein Schwager war? Und wenn dieser Schwager selbst bleibe, auf dessen Namen das Geschäft laute – Die Botin des Konsuls aber rief schon den nächsten Namen auf. Alle zogen ab, indem sie der Alten die Treppe hinunter halfen, sich gegenseitig zur Vorsicht ermahnend, traurig, verstört, doch ganz ohne Reue. Darauf erschien der eben erst aufgerufene junge Herr, er versicherte munter, er habe sein Visum sofort verweigert bekommen, er sei wegen Scheckschwindel vorbestraft. Er hüpfte die Treppe hinunter. Dann rief man meinen Namen auf.
Einen Augenblick dachte ich klar, alles könne verloren sein, die Polizei könne schon bereit sein. Man könne mich abführen. Ich dachte auch klar, auf welche Weise ichdas Gebäude verlassen könne, bevor man Hand an mich legte. Ich würde mich, einmal auf der Straße, dann doch noch herauswinden. Nadines Kammer war nicht weit.
Nichts war verloren. Das Paulchen hatte sich offenbar überwunden und seinem Kollegen das beste Zeugnis ausgestellt. Sein Stolz hatte andere Gefühle besiegt. Ich meine, sein Stolz auf die Macht des Leumund-ausstellen-Könnens, auf die Macht, die Konsuln dieser Welt mitberaten zu dürfen. Der Leumund war freilich ein Nachruf. Er konnte den Mann weder
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