Transit
über Gesellschaft froh. »Was macht Nadine?« – »Nadine? Sie ist wieder verhext. Ich sehe mir die Augen aus dem Kopf. Ich gehe nachts alle Gassen ab, alle Cafés.« – »Sie brauchen sich ja nur abends um sechs am Personalausgang der Dames de Paris aufzustellen.« – »Ich? Nie. Ich brächte das niemals fertig. Ich muß sie durch Zufall treffen, irgendwann, irgendwie – Doch was fehlt Ihnen? Denn Ihnen fehlt auch etwas.«
Ich tat, was ich immer tat, wenn einer mir mißliche Fragen stellte. Ich fragte ihn meinerseits: »Sie sind mir noch Ihre Geschichte schuldig. Wie sind denn gerade Sie zu all den Dingern gekommen, die Ihnen auf der Brust baumeln?« Er erwiderte: »Indem ich ein paar Dutzend junger Leute, die ungefähr in demselben Zustand wie Siewaren, gehindert habe, ganz vor die Hunde zu gehen.« – Ich lachte und fragte ihn, ob er sich aus dieser Gewohnheit an meinen Tisch gesetzt hätte. Er erwiderte ernst: »Wahrscheinlich.« – Doch dann begann er von selbst zu erzählen, weil es ihm not tat.
»Ich lebte am Anfang des Krieges still in einem Dorf im Var. Man war dort gut gegen Fremde, ich hätte vielleicht bis heute dort unangefochten leben können. Mein Vater aber lebte im Departement Garonne. Dort sperrte man alle Fremden ein, die unter sechzig waren. Mein Vater konnte nur freikommen, wenn ich, sein Sohn, mich zum Heer meldete. Ich dachte nach und hielt es für meine Pflicht, mich zu melden. Ich glaubte auch damals, wie die meisten, an einen echten Krieg gegen Hitler. Ich wurde gemustert, wobei sich herausstellte, daß ich untadelig gesund bin. Das hatte ich schon gewußt, doch hatte es bis jetzt mit meiner Gesundheit eine besondere Bewandtnis, ich gehörte zu jenen auserwählten Gesunden, die alle leiblichen Vorbedingungen für die Fremdenlegion erfüllten. Ich kam also in das Ausbildungslager der Fremdenlegion. Ich war ein wenig erstaunt, glaubte aber, das alles gehöre nun einmal zum Krieg. Inzwischen war auch mein Vater aus dem Lager entlassen worden. – Was fehlt Ihnen denn?«
Marie ging draußen vorbei. Sie trug einen fremden grauen Mantel, den ich nie an ihr gesehen hatte. Ich glaubte schon, sie sei in der Menge verschwunden, da betrat sie den Mont Vertoux.
Sie war nicht wie sonst auf der Suche. Sie setzte sich still in eine Ecke. Sie sah still vor sich hin. Sie war offenbar nur hereingekommen, um ungestört allein zu sein. Ich war nur froh, daß sie da war, selbst ohne mich zu suchen, daß sie lebte, noch lebte. »Mir fehlt gar nichts mehr«, sagte ich, »ich bitte Sie, erzählen Sie.« – »Man schickte uns nach Marseille. Man schickte uns dort hinauf.« Er deutete auf das Fort Saint-Jean, hinter dem Alten Hafen. »Da inwendig ist es kalt, es stinkt, es trieft vonSchmutz. Auf den Wänden waren Inschriften: ›Ohne Rast und Ruh.‹ Das ist die Parole der Legion. Man führte uns jeden Morgen ans Meer. Es gibt dort hinter dem Fort eine kleine Bucht. In der Bucht liegen viele Steinklötze. Man ließ uns die Steinklötze aus der Bucht die steile Treppe hinaufwälzen, die in den Berg gehauen ist, und waren wir oben angekommen, dann ließ man uns diese Steinklötze wieder ins Meer zurückwerfen. Das war die spezielle Ausbildung. Wir sollten dadurch an Gehorsam gewöhnt werden. Ich langweile Sie vielleicht?«
Ich ergriff seine Hand, um zu beteuern, daß er mich keineswegs langweile. Und während er fortfuhr, betrachtete ich Mariens Gesicht, so still im Abendlicht. Sie mußte schon tausend Jahre an diesem Fenster gesessen haben, in kretischen und phönizischen Tagen, ein Mädchen, das vergebens nach seinem Geliebten späht unter den Heeren der Völkerschaften, doch diese tausend Jahre waren vergangen wie ein Tag. Jetzt ging die Sonne unter.
»Wir fuhren eines Tages nach Afrika. Man pferchte uns in den Lagerraum eines Schiffes. Es fuhr, ich weiß nicht wieviel Jahrzehnte, wieviel Jahrtausende, Legionäre nach Afrika. Der niemals aufgewaschene Schmutz von Generationen von Legionären! Wir kamen abermals in ein Ausbildungslager. Es war noch härter. Die Ansprachen unserer Vorgesetzten wimmelten von geheimen Anspielungen, von Drohungen, daß wir das Beste noch vor uns hätten. Wir kamen nach Sidi-bel-Abbès. Die Unteroffiziere waren selbst alte Legionäre. Sie waren irgendwann einmal durchgebrannt aus ihren Vaterländern, weil sie jemand erschlagen oder ein Haus angezündet oder gestohlen hatten.«
Ich fühlte, wie es ihm not tat, alles von Anfang an zu erzählen. Ich konnte inzwischen
Weitere Kostenlose Bücher