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Transit

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Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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zwanzig Jahren doch eine eigene Gemeinde bildete, und zwar noch im Staate Litauen. Mir nützten also die polnischen Ausweise nichts mehr, ich brauche die Anerkennung der Litauer.Das ganze Gebiet ist außerdem längst von den Deutschen besetzt. Ich brauche jetzt also neue Staatsbürgerschaftsnachweise, dazu brauche ich irgendwelche Geburtsnachweise aus einer Gemeinde, die nicht mehr besteht. All das braucht Zeit. Wenn die Umbürgerung auf sich warten läßt, muß ich meinen Schiffsplatz abbestellen.«
    Ich sagte: »Warum gleich abbestellen? In Ihrem Fall eilt es nicht. Sie sind nicht in Gefahr. Sie gehören doch auch nicht zu den Leuten, die glauben, unser Erdteil knackt, weil wieder einmal bewaffnete Horden darüber ziehen und Städte anzünden. Sie werden noch immer ein Schiff bekommen.« – »Ich zweifle nicht daran. Ich beschäftige mich schon ziemlich lange und ziemlich geduldig mit Reisevorbereitungen. Irgendwann werden meine Papiere beisammen sein. Irgendwann wird sich auch für mich ein Schiff finden. Es wird sich finden. Nur kann ich mich plötzlich nicht mehr daran erinnern, warum ich einmal so versessen darauf war, abzufahren. Ich hatte wahrscheinlich vor irgend etwas Furcht. Oder, da ich wohl von mir sagen kann, daß meine Natur ziemlich kräftig ist, im allgemeinen furchtlos, man hat mir eingebleut, daß ich Furcht haben müsse. Die Ansteckung hat sich gegeben, die Furcht hat nachgelassen. Ich bin des ganzen Unsinns herzlich satt, ich war es schon bei unserer letzten Begegnung. Ich habe jetzt endgültig genug.« – »Sie wissen doch ganz genau so wie ich, daß man Sie hier nie in Frieden wird bleiben lassen.« – »Wenn schon gereist werden muß, dann will ich jetzt eine andere Reise machen. Zunächst einmal morgen eine sehr bescheidene Fahrt: mit der elektrischen Bahn nach Aix. Dort sitzt die deutsche Kommission. Ich werde mich bei ihr zur Heimreise melden. Ich will an meinen Geburtsort zurück.« – »Freiwillig? Sie wissen doch, was Sie dort erwartet.« – »Und hier? Was erwartet mich hier? Sie kennen vielleicht das Märchen von dem toten Mann. Er wartete in der Ewigkeit, was der Herr über ihn beschlossen hatte. Erwartete und wartete, ein Jahr, zehn Jahre, hundert Jahre. Dann bat er flehentlich um sein Urteil. Er konnte das Warten nicht mehr ertragen. Man erwiderte ihm: ›Auf was wartest du eigentlich? Du bist doch schon längst in der Hölle.‹ Das war sie nämlich: ein blödsinniges Warten auf nichts. Was kann denn höllischer sein? Der Krieg? Der springt euch über den Ozean nach. Ich habe jetzt genug von allem. Ich will heim.«
III
    Ich aber ging in das spanische Konsulat. Ich stellte mich in die Reihe für Anträge auf Transits. Unsere Reihe war lang vor dem Tor auf der Straße. Die Menschen erzählten vor mir und hinter mir Legenden von spanischen Transits, die zwar schließlich gekommen waren, aber so knapp vor der Abfahrt des Schiffes, daß man unmöglich rechtzeitig in Lissabon hatte ankommen können. Ich aber wartete so geduldig, wie man nur wartet, wenn man das Warten um des Wartens willen tut und das, worauf man wartet, unerheblich ist. Ich mußte auch schon sehr tief in der Hölle stecken, von der mir mein Mittransitär im Café Saint-Ferréol erzählt hatte, wenn sie mir nicht einmal übel vorkam, verglichen mit allem, was hinter mir lag und wahrscheinlich vor mir, erträglich und kühl, Legendenerzähler vorn und hinten.
    So rückte ich schließlich nach ein paar Stunden in die Toreinfahrt des spanischen Konsuls, und hinter mir wuchs der Schwanz in die Straße, auf die inzwischen ein kalter Regen herunterfiel, und nach ein paar Stunden rückte ich in die Halle des Konsulats. Ich rückte, ich weiß nicht nach welcher geheimen Regel, vor einen gelben hageren Beamten mit langem Gesicht und dünnen Lippen, der mich mit gemessener Höflichkeit befragte, als warte nicht hinter meinem Rücken ein Schwanz bis zur nächsten Straßenecke, den er wahrscheinlich nieselbst gesehen hatte; denn er war immer innen und der Menschenschwanz immer außen. Er zog sich mit meinen Papieren hinter ein Buch zurück, in dem er den Namen zu suchen schien. Wie sollte ein Name, ein armer verwehter Name, der höchstens noch manchmal von einer Mutter gesprochen wurde, falls sie noch lebte, gerade in diesem Buch eingezeichnet sein? Er war aber eingezeichnet. Ein höchst verdrießliches Lächeln krümmte die Lippen des spanischen Konsulatskanzlers. Er verkündete höflich, mein Antrag sei zwecklos, ich könne

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