Transit
nachdenken, wie ich das Schiff erreichte, auf dem Marie bald abfuhr. Gerade war eingetreten, worauf ich gelauert hatte: Sie hatte das Suchen abgebrochen. Ja, heute, vielleicht im siebzehnten Monat ihrer Flucht aus Paris, im fünfzehnten Monat ihrerAnkunft. Ich konnte dem Toten die glatte Zahl vorweisen. Sie war durchaus nachzurechnen. Und dann hatte sie überdies mich gesucht – mich oder uns beide. Trotzdem vollzog sich der Abbruch der Suche ganz anders, als ich erwartet hatte. Es war nichts Jähes darin, kein wildes Wennschon-Dennschon. Es war ein stiller Entschluß, dem Zufall zu gehorchen. Doch schien sich der Zufall selbst zu wundern, wie sie da saß mit gesenktem Kopf und gesenkten Augen, in einer Ergebenheit, die ihm, dem Zufall, noch nie widerfahren war und die er nur dem Umstand verdankte, daß er etwas anderem verteufelt ähnlich sah.
Die Stimme meines Begleiters schlug an mein Ohr. Ich hätte nicht schwören können, ob er inzwischen weitererzählt oder geschwiegen hatte.
»Die Offiziere waren Franzosen, von denen sich viele in Europa im Dienst etwas hatten zuschulden kommen lassen. Nur wir, wir waren hierher geraten durch den Krieg. Weil wir Hitler besiegen wollten. Doch niemand schenkte uns Glauben. Und wenn sie uns geglaubt hätten, sie hätten uns dann noch mehr gehaßt. Sie hatten durchgemacht, was wir durchmachten, sie wollten es deshalb erhalten wissen, es sollte so weitergehen bis in Ewigkeit, es sollte nicht hinter ihnen plötzlich abbrechen und besser werden.
Dann kam der Tag, an dem wir in die Wüste zogen. Vor unserem Abzug erreichte mich noch ein Brief meines Vaters, er sei im Begriff, nach Brasilien zu fahren, ich möchte mich eilen und nachkommen. Ich fluchte meinem Vater, was mir immer leid tun wird.«
Ich hütete mich, ihn auch nur mit einer Bewegung zu stören. Ich horchte reglos, um ihn zu beruhigen, wobei ich kein Auge von Marie ließ. Ich wußte, daß er erst jetzt, in dieser Minute, an diesem Tisch, sein vergangenes Leben abschloß. Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt hat.
»Wir kamen in das Fort Saint-Paul. Es liegt in einer Oase. Dort gab es Palmen und Brunnen. Es gab die kühlsten steinernen Häuser. Französische Legionäre saßen im Schatten, spielten und tranken. Wir hofften auf bessere Tage. Doch diese französischen Legionäre verachteten uns, man hatte ihnen erklärt, wir seien dreckiges Pack, das alle Erniedrigung auf sich nehme, nur um ein paar Sous zu verdienen. Uns führte man vor die Stadt in die Wüste. Wir sahen die Lichter der Stadt. Wir mußten für unser Lager Schotter in den Sand schütten, damit es nicht zu weich sei, damit wir nicht verweichlichten.«
Marie saß unbeweglich gegen den Hafen, ich fühlte, so daß es mich brannte, unser aller verfluchte Zusammengehörigkeit. Mein Zimmernachbar fuhr fort: »Man schickte uns weiter, tief in die Wüste hinein, gegen ein kleines Fort, nicht weit von der italienischen Grenze. Alles war gelb. Die Erde, der Himmel und wir. Die Offiziere ritten, wir waren zu Fuß, auch die Unteroffiziere. Die Offiziere verachteten uns, weil sie ritten und wir gingen, die Unteroffiziere haßten uns, weil sie gingen und wir auch gingen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in die Wüste hineinzogen. Mir dünkte es vierzig Jahre lang wie in der Bibel.
Wir waren noch eine Woche von unserem Bestimmungsort entfernt. Wir sollten dort die Besatzung ablösen. Jetzt kamen die italienischen Flieger. Wir waren zwei Regimenter, allein zwischen Himmel und Erde. Die Flieger gingen en pique herunter. Sie hätten ebensogut auf ein einzelnes Schiff im Meer herunterstoßen können. Wir gruben uns in den Sand, und gab es einmal eine Pause, dann zogen wir weiter. Und immer wieder stieg aus dem Himmel ein neuer Schwarm von den Todesvögeln. Da fingen unsere Leute an zu verzweifeln. Sie warfen sich in den Sand, sie blieben. Sie wollten sterben. Unser Wasser ging aus. Verzeihen Sie bitte, Sie kennen vielleicht auch ähnliche Märsche.
Ich wollte Ihnen ja auch nur Ihre Frage beantworten,wieso ich zu diesen Dingern gekommen bin, die jetzt auf meiner Brust hängen. Ich hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt, meine Tapferkeit zu beweisen. Steinklötze bergauf schleppen, Überfahrten in vollgekotzten Schiffen, die man seit hundert Jahren nicht ausgewaschen hat, schlafen in einem Brei aus zerquetschten Wanzen, herunterspringen mit schwerem Gepäck von einer vier Meter
Weitere Kostenlose Bücher