Transit
Saint-Jean hinauf, um allein zu sein und das Meer zu sehen. Wo der Wind am stärksten war, bei der Wendung der Straße, lief mir Marie entgegen. Der Wind blies sie gegen mich. Ich nahm sie in meinen Arm und wunderte mich nicht einmal in meiner Torheit, wie leicht sie mir folgte, als hätte uns wirklich nur ein Windstoß an dieser Wendung der Straße vereint. Ich lud sie ein in die Pizzaria, wir gingen zurück an den Alten Hafen. »Ich habe nur allein sein wollen«, sagte sie, »und das Meer ansehen.«
Wir setzten uns dicht an das Pizzafeuer. In seinem scharfen Geflacker erschien ihr Gesicht unruhig und heiß, ich ahnte, wie es aussehen könne, von jähen Freuden und Wünschen bewegt. Doch immer, wenn ich mit ihr allein war, drohte es mir, der Augenblick sei jetzt nahe, in dem ich alles sagen müsse. Man brachte Rosé, wir tranken. Ich fühlte mich augenblicklich leichter, die Drohung wog weniger schwer, Marie zupfte ein wenig an meinem Ärmel herum. Sie sagte: »Der Konsul hat meine Vorladung umdatiert? Wenn du überall solche Freunde findest, die mir in meinen Papieren helfen, warum lässest du dir nicht selbst helfen? Ich kann es nicht glauben, daß wir uns trennen. Sieh mich nur an. Ja, du wirst auf dem Schiff auftauchen oder auf irgendeinem Landungssteg. Wie heute, bei irgendeiner Wendung der Straße in einer fremden Stadt.«
Ich sagte: »Wozu?« Ich sah sie scharf an. Das Flackern des Feuers verdarb mir aber ihr wahres Gesicht. Sie sagte: »An diesem Feuer könnte ich sitzen und sitzen, nur immer zuhören, wie man den Teig schlägt, und immer das Feuer ansehen und alt dabei werden.« – »Dann wundert es mich«, erwiderte ich, »warum du nicht sitzen bleibst. Ich brauchte dir dann nicht erst nachzufahren, nicht erst auf einem Schiff aufzutauchen oder in einer fremden Stadt. Wir könnten zusammen hier sitzen, sooft und solange wir wollten.« Sie sah mich traurig an. »Du weißt, daß ich fort muß. Mir kommt es zuweilen vor, als hörtest du mir kaum zu oder hieltest nichts von meinen Worten.« Ich dachte: Sie hat recht. Sie muß fort. Die Wahrheit würde jetzt alles auch nur noch mehr verwickeln. Laß einmal erst das Schiff abstoßen, zurückliegen dieses verwünschte Land, die guten und bösen Erinnerungen, das zusammengeflickte Leben, die Gräber und all den Unsinn von Schuld und Reue. »Nun ist ja morgen der Tag der Konvokation vor dem amerikanischen Konsul. Mir ist bang. Ich bitte Gott um dieses Transit.« – »Ein sonderbares Gebet, Marie. Wir Menschen baten früher die Götterum guten Wind. Kannst du denn nicht einen Augenblick bei mir sitzen bleiben, ohne an diese Abfahrt zu denken?« – »Du sollst auch an sie denken«, sagte Marie, »gerade du.« Bei ihren Worten dachte ich plötzlich an den Greis, der mich in meiner ersten Marseiller Nacht mit ähnlichen Worten ermahnt hatte. Ich sah einen Augenblick sein augenloses, sein bodenloses Gesicht im Pizzafeuer beim Geklapper der Teigschläger. Marie bettelte um ein wenig Pizza ohne Brotkarten. Doch der Kellner blieb hart. Er gab uns nur zu trinken.
IV
Am Abend fand ich den Durchgang zu meinem Zimmer verstopft durch eine Menge Gepäck, bewacht von den beiden Hunden, die neue Halsbänder trugen. Die Zimmernachbarin kam bald selbst mit einem Rest von Hartspiritus und von Zuckerrationen, von Kaffee-Ersatz, einer Schokoladenrippe, zwei Eiern, die sie mir als Erbe zugedacht hatte. Ich freute mich über die Augen, die Claudine am nächsten Tag machen würde, wenn ich das Zeug hinauftrug. Die Zimmernachbarin war jetzt bereit, am nächsten Tag nach Lissabon zu fahren. Auch für die Hunde waren schon Plätze gebucht im Hunderaum der »Nyassa«.
Sie jaulten freudig zur Abreise. Am Morgen war dann der Gang mit neuem Gepäck verstopft. Zwei alte Leute zogen ein, die mit dem Frühzug angekommen waren. Sie waren beide klein und rund, mit grauen, wirren Haaren. Doch hatten sie trotz ihrem Alter ein kindliches Gebaren. Sie wurden mit ihren Packen und Päckchen in einer unverständlichen Welt herumgeworfen, die es doch nicht zuwege gebracht hatte, ihre runzligen Hände zu trennen. Die Alte lieh bei mir sofort einen Korkenzieher, um ihre Brennspiritusflasche zu öffnen. Sie merkte auch augenblicklich, daß ich allein war, und lud mich ein zu dem dünnenFrühkaffee auf dem Spirituskocher. Und weil auch mein Zimmernachbar auf der Schwelle erschien, nachdem er mich in meinem eigenen Zimmer gesucht hatte, wurde er gleichfalls eingeladen. Der Kaffee war ein Ersatzkaffee aus
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