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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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liegenden Kinder, beugte sich über die Schlafenden, und kleine schnelle Finger griffen zu.
    Sie nahmen dort etwas und da eine Kleinigkeit. Dann huschte die Gestalt weiter, so lautlos, als habe sie Flügel. Sie verhielt bei den braven Bäuerlein, wühlte in deren Proviantkörben und raffte zusammen, was eßbar war.
    Forster verhielt sich ganz still.
    Der tiefe Schatten machte ihn unsichtbar, und er stand da wie erstarrt. Er wartete, daß sie in seine Nähe käme und die Bankreihen neben ihm untersuchen würde …
    Die kleine Gestalt glitt weiter. Ganz zart raschelte ihr Rock, als sie wieder über die schlafenden Kinder im Mittelgang hüpfte …
    Forster konnte es nicht hören, er bildete sich nur ein, daß es zart raschelte, denn wenn sechzig schlafende Menschen atmen, kann man mit Kastagnetten tanzen, ohne daß es jemand hört.
    Dann war sie vor ihm.
    Er griff plötzlich zu, packte ihre ausgestreckte Hand und zog sie mit einem Ruck an sich heran.
    Sie schrie nicht auf. Sie wehrte sich stumm mit einer wilden Verzweiflung, biß in Forsters Hand, trat nach seinem Schienbein, zielte mit ihrem Knie nach seinem Unterleib, aber er war wendiger. Er wich ihr immer aus, riß sie von neuem an sich und preßte die Arme so fest um ihren schmalen bebenden Körper, daß ihr die Luft wegblieb. Ihr Kopf kippte nach hinten, ihr kleiner Mund war geöffnet, ihre Gegenwehr ließ nach … Sie rang nach Atem und hing in seinen Armen, besiegt, in völliger Aufgabe. Nur das Zittern ihres Körpers wurde stärker und fast zu einem Krampf.
    »Seien Sie still –«, flüsterte er ihr zu. »Haben Sie doch keine Angst! Kommen Sie mit!«
    Sie schüttelte stumm den Kopf und hieb mit geballten Fäusten nach seiner Nase.
    Er bog den Kopf zurück, ihre Schläge glitten an seinem Kinn ab und trafen nur seinen Hals.
    Sie hatte mehr Kraft, als man einem so zarten Körper zutrauen mochte, und er brauchte wieder seinen harten Griff, um sie erneut zu bändigen. Dann konnte er sie aus dem Großwaggon ziehen und drängte sie draußen, auf dem Vorplatz des Waggons, in die Ecke zwischen Außentür und Toilette.
    Die Fremde zog die Schultern hoch und starrte ihn an.
    Es war wieder dieser Blick, dieser Aufschrei in den Augen, der Forster zutiefst erschütterte.
    Sie hat mich erkannt, durchfuhr es ihn. Sie hat sich drei Tage und drei Nächte hindurch davor gefürchtet, mir wieder zu begegnen. Ich war der einzige auf dem Bahnhof Swerdlowsk, der gesehen hat, wie sie in den Zug stürzte.
    Das alles sagt dieser Blick. Hier gibt ein Mensch auf – nur durch seine Augen …
    Plötzlich weinte sie.
    Es kam so unerwartet, daß Forster zusammenzuckte, als ihr schmaler Kopf gegen seine Brust sank und ihre schwarzen Haare sein Gesicht streiften. Ihre Arme, dünn und vom Hunger gezeichnet, pendelten an ihrer Seite, als gehörten sie gar nicht zu ihr.
    Er legte wieder den Arm um ihre zuckenden Schultern, diesmal mit einer zögernden Zärtlichkeit, und streichelte mit der anderen Hand ihren Rücken.
    So blieben sie eine Weile stehen, ohne ein Wort, nur vom stählernen Rollen der Räder eingehüllt.
    Das Mädchen schluchzte noch immer, drückte sein Gesicht gegen Forsters Brust, und er spürte, wie die Tränen sein Hemd durchdrangen und seine Haut erreichten.
    Ebenso plötzlich, wie sie zu weinen begonnen hatte, brach ihr Schluchzen ab und ihr Kopf zuckte zurück. Das nasse Gesicht schimmerte ihm in der kargen Notbeleuchtung wie eine schmale weiße Scheibe entgegen. Ihre Augen waren wie zwei schwarze Löcher, hineingebrannt in diese schimmernde glatte Fläche …
    »Wenn Sie mich in Irkutsk der Miliz übergeben, ist es mein Tod«, sagte sie dann ganz ruhig.
    Ihre Stimme war mädchenhaft, aber gleichzeitig voller Energie. Sie bettelte nicht, sie klang nicht weinerlich – es war fast wie eine Forderung: Entscheide dich! Tod oder Leben für mich!
    Forster atmete tief durch. »Ich werde Sie nicht der Miliz übergeben«, sagte er.
    Sie zog die schmalen Augenbrauen hoch, als sie ihn sprechen hörte. Natürlich, mein verdammtes Schulrussisch, dachte Forster. Jedem fällt das auf, und ich war so stolz, als ich das Diplom mit ›sehr gut‹ machte. Es muß schaurig klingen.
    »Sie sind Ausländer?« fragte das Mädchen.
    »Ja, Deutscher.«
    »Ein germanski.« Sie lächelte schwach, aber sofort verschwand der frohe Zug von ihrem Gesicht. »Wenn Sie es nicht tun, wird es der Schaffner tun.«
    »Sie haben keine Fahrkarte?« fragte Forster ziemlich dumm. Ihre Augen machten ihn

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