Transsibirien Express
widerstandslos … er suchte nach Worten, aber es war, als ob er in einem kahlen Raum umherirre …
»Nein. Das wissen Sie doch. Sie haben doch gesehen, wie ich in den Zug gesprungen bin.«
»Sie haben mich wiedererkannt?«
»Ich habe nicht erwartet, daß jemand so spät in der Nacht am Fenster steht. Plötzlich sah ich Sie. Aber ich mußte mit, es gab kein Zurück mehr …«
»Sie wollen ohne Fahrkarte quer durch Rußland reisen?«
»Ich will irgendwohin … Vielleicht springe ich zwischen Irkutsk und Tschita ab – wenn Sie mich nicht anzeigen..«
»Aus dem fahrenden Zug springen! Das ist Wahnsinn!«
»Er wird langsamer fahren.«
Sie strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn. Ihr Gesicht war ebenmäßig und von jener rätselhaften Schönheit, die man immer dann findet, wenn sich Asien und Europa in einem Menschen begegnen.
»Manchmal bleibt er sogar stehen. Der Schnee, wissen Sie. Es gibt meterhohe Verwehungen. Von der Mongolei bläst der Sturm herüber und blockiert mit dem Schnee die Schienen und die Signale. Es ist ganz einfach, abzuspringen. Und niemand kann mich dann einholen, niemand wird mir nachlaufen … Wer rennt schon in die Taiga, und der Zug muß ja auch weiter.«
»Und dann?« fragte Forster.
Er hielt sie noch immer umfaßt und streichelte ihren Rücken. Er nahm es gar nicht wahr, und sie hinderte ihn auch nicht daran.
»Dann?« Sie blickte an seinem Kopf vorbei, hinaus auf die vorbeijagenden, im Frost erstarrten Bäume. »Ich werde leben! Mehr will ich nicht …«
»Und warum tun Sie das alles?«
»Wie kann ich Ihnen das erzählen?« Sie blickte sich um. Unruhe packte sie. »Lassen Sie mich los, bitte. Gleich wird der Schaffner kommen … Und dann haben Sie mich getötet! Das wollen Sie doch nicht.«
»Nein! Niemals!« Forster hielt sie fest, als sie weglaufen wollte. »Ich habe Sie gesucht, von Swerdlowsk ab habe ich Sie Tag und Nacht im ganzen Zug gesucht.«
»Sie hätten mich niemals gefunden, aber ich hatte Hunger.«
Sie klopfte gegen ihren langen gesteppten Rock. Es war ein raffinierter Rock, von Strafgefangenen ausgeknobelt und seit hundert Jahren erfolgreich … Er bestand innen aus lauter kleinen Taschen, in denen man alles verstauen konnte, was man als Entrechteter gebrauchen kann, am meisten Lebensmittel.
»Ich will Ihnen helfen«, sagte Forster. Seine Kehle war trocken. »Eines Tages werden Sie doch entdeckt, so wie ich Sie gefaßt habe. Wir müssen uns etwas anderes ausdenken. Das einfachste und frechste wäre: Kommen Sie mit in mein Abteil!«
»Das ist unmöglich!« Sie starrte ihn entsetzt an. »Der Schaffner …«
»Fragen wir Klaschka. Sie weiß bestimmt einen Rat.«
»Wer ist Klaschka?«
»Die Zug-Dirne vom Transsib. Sie kennt sich in allen Lagen aus. Nein! Laufen Sie nicht wieder weg.«
Er hielt sie fest, als sie sich mit einem Ruck losreißen wollte. »Wenn Klaschka keinen Rat weiß, können Sie zurück in Ihr Versteck, das verspreche ich Ihnen.«
Er hielt ihre Hände, und er wußte nicht, warum er es tat: Plötzlich beugte er sich hinunter und küßte ihre verkrampften Finger. »Ich heiße Werner Antonowitsch Forster«, sagte er leise.
»Und ich bin Milda Tichonowna Lipski …«
»Milda …« Er küßte ihre andere Hand und war auf einmal glücklich wie nie in seinem Leben. »Wie schön, wenn ein Mensch Milda heißt …«
Ohne Gegenwehr, wie ein Kind, das man nur an der Hand führt, ging sie mit ihm zu den Wagen der ersten Klasse.
Klaschka war sehr ungnädig, als Forster sie aus dem Schlaf rüttelte. Sie lag, etwas zusammengekrümmt und erschöpft von ihrem Gewerbe, in dem schmalen Bett und träumte gerade von einer eigenen kleinen Datscha in den Wäldern von Perenilko.
Fast jede Nacht träumte Klaschka von Perenilko, seitdem sie dort eine Freundin besucht hatte.
Lydia Petrowna, wie das Dirnchen hieß, war weniger schön und attraktiv. Dürrer als Klaschka und langgesichtig, hatte sie es doch erreicht, sich mit Hilfe reicher Freunde ein Landhaus zu kaufen und das Leben einer Künstlerin zu führen.
Und das war nun auch Klaschkas Ziel geworden …
Wirklich, Lydia Petrowna nannte sich Künstlerin, was in der Sowjetunion eine besonders wohlwollende Behandlung garantiert – vor allem bei den Behörden.
Um ihr Künstlertum zu beweisen, hatte Lydia Petrowna begonnen, schaurige Bilder zu malen, die aber trotzdem akzeptiert wurden. Anscheinend glaubte man an einen modernen Stil, jedenfalls führte diese Lydia ein Leben wie eine Made im Speck. Sie
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