Transsibirien Express
Mädchen, das Klaschkas nächtliche Tätigkeit miterleben mußte, hockte am Fenster und kaute an einem dicken Apfel.
»Wer bist du?« fragte Klaschka leise. Sie hatte sich wieder geschminkt und trug heute ein Kleid mit einem ungeheuer tiefen Ausschnitt, der selbst für eine Person ihres Standes etwas zu gewagt war.
Mulanow hatte fasziniert auf den Ansatz der üppigen Brust gestarrt und gesagt: »Mein Täubchen, bedenke, daß auch Kinder im Zug sind. Laß es nicht soweit kommen, daß dich die Eltern verprügeln.«
»Du weißt doch, wer ich bin«, antwortete Milda auf Klaschkas Frage. Sie hatte sich in die Ecke gedrückt und ihr schmales blasses Gesicht mußte bei jedem, der nicht einen Stein in der Brust trug, tiefstes Mitleid erzeugen.
»Ich kenne wohl deinen Namen, aber ob er stimmt, weiß ich nicht. Glaube mir, ich habe mir viel Gedanken darüber gemacht. Bist du auf der Flucht?«
»Auf der Flucht?« Es war, als kröche Milda noch mehr in sich zusammen. »Wovor sollte ich flüchten?«
»Weiß ich es? Man fährt doch nicht heimlich mit dem Transsib, um irgendwo eine alte Tante zu besuchen …«
»Wenn man kein Geld hat …«
»Dann hat man auch keine alte Tante, die weit weg wohnt! Man vergißt sie.«
Klaschka begann sich die Fingernägel zu lackieren. Der süßliche beizende Geruch des Nagellacks erfüllte schnell das heiße Abteil. Es war ein leuchtendroter Lack mit Perlmutt-Effekt.
»Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?«
»Nein, Klaschka.« Milda Tichonowna begann leise zu weinen. »Nimm es mir nicht übel, Klaschka, es ist besser so! Auch besser für dich …«
Mulanow blickte kurz ins Abteil. Er kam vom Zugführer und hatte erfahren, daß in den Wagen eins und zwei die Untersuchungen in vollem Gange waren.
Vitali und Wladlen hatten einen schweren Stand. Wo sie auftauchten und um das Öffnen der Koffer baten, stießen sie auf Widerstand. Jeder war beleidigt, verdächtigt zu werden, und das mit Recht.
Hatte man es nötig, die neuen Schuhe dieses Herrn Skamejkin zu stehlen? Und einen Ohrring? Was sollte man wohl mit einem Ohrring? Wenn schon, dann alle zwei! Der Mensch hat doch nicht nur ein Ohr!
Skamejkin, dem ein Mitreisender voller Mitgefühl ein Paar Pantoffel geliehen hatte, in denen er jetzt Vitali und Wladlen begleitete, war anderer Ansicht. Jedem erzählte er von seinen Fünfzehn-Rubel-Schuhen, und daß sich mit seiner Seife der Genosse Leonid Breschnew die Hände wasche …
»Sie sind hier im Zug!« rief er in jedem Abteil. »Genossen, verhindert nicht die Gerechtigkeit! Niemand wird verdächtigt, aber man muß doch suchen, nicht wahr?«
Erschütternd war es, als er im Wagen zwei, Abteil vier mit der bestohlenen Generalswitwe Olga Federowna Platkina zusammentraf. Sie umarmten sich, weinten gemeinsam und verfluchten dann lautstark den Dieb.
»Ich muß die hinteren Wagen durchsuchen«, sagte Mulanow mit Bitterkeit. »Welch ein Ansinnen! Die erste Klasse! Zugegeben, wir leben in einer klassenlosen Gesellschaft – aber bei einem Diebstahl sollte man doch unterscheiden, wer so etwas nötig hat und wer nicht!« Er betrachtete Milda, der Klaschka gerade die Fingernägelchen lackierte.
»Paßt auf Karsanow auf«, riet der Schaffner. »Er sitzt herum, als habe er Salzsäure getrunken. Ein unheimlicher Mensch. Ich habe die Telefonistin gefragt, von Beamter zu Beamtin, da bleibt ja das Dienstgeheimnis gewahrt –, er hat mit Moskau telefoniert! Und mit wem? Mit dem Innenministerium! Nachts! Ein Professor der Agrarwissenschaft! Unterhält man sich nachts über die Aufzucht von Bohnen? Ein Mensch wie ein Reibeisen!«
Er schob die Tür zu und rannte weiter.
»Ich habe Angst, Klaschka«, sagte Milda leise.
»Werner Antonowitsch wird dich beschützen.«
»Was kann er tun? Ich hätte nicht diesen Zug nehmen sollen.«
»Diese Einsicht kommt zu spät.«
Klaschka war mit dem Lackieren fertig, ergriff Mildas Hände und schüttelte sie in der Luft, damit der Lack schneller trocknete.
Milda ließ alles mit sich geschehen, sie tat, als sei sie nur eine Puppe.
»Ist er nicht ein schöner Mann?« fragte Klaschka plötzlich.
»Wer?«
»Werner Antonowitsch.« Und als Milda schwieg, fuhr Klaschka fort: »Du hast dich in ihn verliebt.« Sie sagte es im Ton einer Verschwörung.
»Das ist nicht wahr!« Mit einem Ruck zog Milda ihre Hände aus Klaschkas Fingern.
»Auch lügen kannst du nicht!« Klaschka lachte leise. »Aber er liebt dich!«
»Unmöglich.«
»Man sollte es fast glauben, wenn
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