Transsibirien Express
General behandelte, nur weil er eine Dienstmütze der Stadtwerke auf dem Kopf trug!«
»Lenken Sie nicht mit Ihrer Tante ab, Werner Antonowitsch!«
Karsanow betrachtete die tief verschneiten Bäume und den weiten hellblauen Himmel darüber. Das Land war hügelig, grenzenlos und einsam.
»Wie sieht eine Dirne aus? Herausfordernd, aufreizend, vor allem in der Kleidung. Und Milda ist ein Mädchen in bäuerlichen Kleidern, derben Stiefeln, dicken Strümpfen, Stepprock und Wattejacke. Ein Kopftuch aus dem vorigen Jahrhundert dazu, alt und ausgebleicht … Geht man so auf Kundenfang, selbst als Anfängerin?« Er beugte sich nach vorn. Sein listiges Gesicht wurde noch fuchsähnlicher. »Man will uns täuschen, das ist es! Wissen Sie, was ich machen werde, wenn Ihre Milda wiederkommt? Ich werde sie in ein strenges Verhör nehmen!«
»Sie vergessen – Milda ist mein Gast!« Ein durchaus nicht dummer Mensch, dachte Forster. Ich habe ihn unterschätzt. Er wird Milda so in die Zange nehmen, daß sie die Nerven verliert.
»Sie haben kein Recht, das Mädchen zu verhören!« fuhr Forster scharf fort.
Aber Karsanow nickte mehrmals.
»Jeder Sowjetbürger ist verpflichtet, gospodin, einzugreifen, wenn dem Volke der Werktätigen Schaden zugefügt wird! Ist diese Milda kein Schaden? Ein Geschwür am Körper unseres Staates? Wir werden es sehen! Lenin hat uns aufgefordert, immer mit wachen Augen durchs Leben zu gehen …«
Durch den Gang kam der sowjetische General. Er trug eine Uniform, hatte aber die oberen Knöpfe geöffnet.
Es war heiß und stickig im Zug, die Ventilation war zwar eingestellt, aber auf dem Dach schienen die Austrittsöffnungen eingefroren zu sein. Der Frost in der Taiga war mörderisch.
An der Abteiltür stutzte der General, besann sich kurz und schob sie dann auf.
Karsanow sprang sofort auf, während Forster die Beine übereinanderschlug. Pal Viktorowitsch beobachtete es mit gerunzelten Augenbrauen.
»Ist der singende Idiot hier vorbeigekommen?« fragte der General. Er schien auf der Jagd zu sein, um den Tenor endlich zu beseitigen.
Karsanow nickte eifrig. »Vor einer Viertelstunde etwa, Genosse General. Er sang …«
»Was sonst?« Der General kam ins Abteil und setzte sich neben Forster auf die Polsterbank. »Wir sollten eine Interessengemeinschaft bilden, Genossen. Nur so erreichen wir, daß er in Irkutsk den Zug verlassen muß! Wenn wir uns alle einig sind, daß sein ewiges Singen unsere Nerven zerstört, kann er im Interesse der Zuggemeinschaft entfernt werden.«
Er sah Forster an, der aus seiner Aktentasche eine kleine Flasche Kognak holte, sie aufschraubte und sich in einen Becher aus Plexiglas einen Schluck eingoß.
Erst jetzt spürte Werner Forster, daß auch ihn die Aufregung gepackt hatte. Solange Milda bei ihm gewesen war, hatte er keine Zeit gehabt, Angst zu haben. Seine Nerven waren auf Kampf eingestellt gewesen.
Aber jetzt lösten sich die Spannungen und er ahnte, wie nahe sie alle vor einer Katastrophe gestanden hatten.
»Zum Wohl, Genosse!« sagte der General, als Forster den Kognak hinunterkippte.
»Er ist ein Deutscher!« sagte Karsanow, und es klang, als habe er gesagt: Dort, auf der schönen Polsterbank, liegt ein Misthaufen!
Der General betrachtete Forster genauer. »Und wie gefällt Ihnen die Sowjetunion?«
»Sie ist ein imponierendes Land!«
»Sie reisen nach Hause?«
»Ja. Über Wladiwostok und Japan. Diese Reise ist für mich ein wahr gewordener Kindheitstraum! Nur schade, daß es immer und überall Menschen gibt, die Pfeffer auf ein Zuckerbrot streuen …«
Die Anspielung war klar, und Karsanow verstand sie auch. Er schnaufte durch die Nase und setzte sich stumm.
Der General verstand die Bemerkung anders.
»Der Tenor!« rief er, beinahe erfreut. »Sie haben recht, gospodin! Hören Sie ihn auch? Morgens um sieben Uhr fängt er an. ›Wie eiskalt ist dies Händchen …‹ Heute fing er erst um acht an! Dann liege ich seit sieben Uhr wach und warte darauf, daß der Hund zu singen anfängt! Ein Sadist dazu, meine Herren! Als ich anfange, nervös zu werden: Warum singt er nicht – ist er etwa krank – heiser – ist ihm etwas anderes zugestoßen? – jault er los! Aber nicht ›Boheme‹, nein, diesmal ›Undine‹, der Kerl! ›Vater, Mutter, Schwestern, Brüder …‹«
»Wir haben es gehört«, bestätigte Forster. »Einen Kognak, Herr General?«
»Gern. Grusinischer?«
»Nein. Spanischer!«
»Spanischer? Ein Kognak aus einem Land mit einer Diktatur? Wie
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