Transsibirien Express
Genosse Oberst?«
Karsanow kam aber nicht mehr dazu, etwas zu befehlen.
Der Zug machte einen gewaltigen Ruck und hielt so plötzlich, daß alle nach vorn geschleudert wurden.
Vom Gepäcknetz fiel Karsanows Tasche herunter, genau ihm in den Nacken. Er sank auf die Knie, verdrehte die Augen und stand dann ächzend auf.
»Da haben wir es!« schrie Mulanow und sprang hoch. »Festgefahren! Im Schneesturm festgefahren! Wann ist das zum letztenmal vorgekommen? Vor Jahren, Genosse Oberst, vor Jahren! In grauer Vorzeit! Aber jetzt sitzen wir fest! Eine Katastrophe, sage ich, eine echte Katastrophe!«
Er riß die Schiebetür auf und stürzte auf den Gang. Überall kamen die Menschen aus den Abteilen und verstopften die Gänge.
»Keine Panik, Genossen!« rief Mulanow und kämpfte sich durch die Wagen nach vorn zum Zugführer. »Es wird bald weitergehen! Setzen Sie sich hin! Wir haben für einen solch außergewöhnlichen Fall unsere genauen Instruktionen …« Es war wirklich so: Der Transsibirien-Expreß saß fest.
Riesige Schneeberge hatten die Schienen zugeweht und waren dort zu Eisklötzen erstarrt. Die stählernen Schneepflüge vor der Lok schafften es nicht mehr, die Eismassen beiseite zu räumen.
Die Gefahr, daß der ganze Zug aus den Schienen sprang, war zu groß, um mit gröbster Gewalt gegen die Schneehalden anzufahren.
Vorn saßen die beiden Lokführer in ihren heißen Kabinen und legten die Hände in den Schoß.
Zugführer Vitali Diogenowitsch telefonierte drahtlos mit der nächsten größeren Station.
Es war Irkutsk, einhundertsiebzig Werst entfernt; für sibirische Verhältnisse ein Spaziergang, aber jetzt, in diesem mörderischen Schneesturm, ein Ort, so weit weg wie ein Stern.
»Sie schicken einen Räumzug –«, sagte Vitali zwischendurch, während er, den Hörer am Ohr, auf den nächsten zuständigen Beamten wartete.
Der ganze, gut trainierte Behördenapparat lief jetzt an, eine riesige Maschinerie mit vielen Rädern, die jetzt alle in eine Richtung gedreht werden mußten … Und das war die große Schwierigkeit!
Es gab eine kleine Armee zuständiger Beamter und eine noch größere Armee nicht zuständiger Beamter, und jeder hatte etwas anderes zu sagen.
Der Transsib hängt fest? In einer gewaltigen Schneeverwehung?
Man blätterte in den Statistiken. In den letzten zwanzig Jahren gab es keinen solchen Fall.
»Man weiß es nicht«, sagte Vitali ins Telefon, nachdem sich ein hoher Beamter in Irkutsk gemeldet hatte.
»Wir haben zwar einen unangenehmen Burschen im Zug, einen Oleg Tichonowitsch Dagorski. Wir haben aber auch einen Oberst des KGB, den ehrenwerten Pal Viktorowitsch Karsanow. Soll er die Untersuchungen übernehmen?«
Armer Dagorski!
Aber es war dennoch eine hervorragende Idee, und Mulanow klopfte Vitali anerkennend auf die Schulter.
»Bitten Sie den Oberst ans Telefon«, sagte die Stimme im fernen Irkutsk. »Wir werden alles unternehmen, um den Zug so schnell wie möglich freizubekommen!«
Mulanow trabte von neuem los und fand Karsanow vor, der, mit dem Rücken zu Forster, auf den Polstern kniete und sein Hemd ausgezogen hatte.
Die herunterstürzende Reisetasche hatte mit dem Schloß seinen Nacken getroffen und eine Platzwunde gerissen.
Man hatte sie erst bemerkt, als es Karsanow warm in den Kragen rieselte.
Jetzt waren Milda und Forster dabei, die Wunde mit Mull abzutupfen, mit Jod zu bepinseln und einen Verband anzulegen.
Karsanow zuckte zusammen, weil das Jod in der Wunde höllisch brannte. Er krallte seine Finger in die Polster.
»Reisen Sie immer mit einer Sanitätstasche?« fragte er und knirschte mit den Zähnen.
»Grundsätzlich! Sie sehen, es macht sich bezahlt. Den Kopf mehr nach vorn, Pal Viktorowitsch … Milda ist gleich fertig!«
»Sie säubert die Wunde?«
»Ja! Und sie macht es sehr geschickt. Ich werde Sie verbinden.« Forster lachte leise. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Karsanow, daß ich Sie dabei stranguliere …«
»Ich würde mich auch wehren!« Karsanow hielt still, beugte den Kopf tiefer und spürte Mildas kalte Finger an seinem Nacken. Auch das rettet sie nicht, dachte er. Damit kauft sie sich nicht frei.
Sie trägt ein Geheimnis mit sich herum – das will ich wissen! »Reist mit einem Sanitätskasten!« sagte er von neuem spöttisch. »Was ist eigentlich alles drin?«
»Alles, was man braucht, sogar Morphium und eine kleine Flasche mit Äther. Außerdem Kreislauftabletten, Antibiotika, Medikamente gegen Durchfall und Malaria, Krämpfe und
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