Transzendenz
Marotten seiner Geschwister und Neffen vielleicht nicht so viel bedeuten – aber das muss ich gerade sagen. Na ja, vielleicht hat er Recht. Wenn ich deine Worte für bare Münze nehme, haben wir es hier mit einer Geistererscheinung zu tun. Und damit geht man am besten zu einem Priester, nicht wahr? Und am allerbesten zu einem Priester oder einer Priesterin in einem so alten Land wie diesem.« Kolumbus selbst habe hier ein Grabmal, erzählte sie mir, und zwar in der Kathedrale von Sevilla, die auf den Trümmern einer Moschee erbaut worden sei. Diese Moschee sei von den Moslems errichtet worden, die Südspanien einst besetzt hatten. »Hier ist alles geschichtsträchtig und voller alter Gespenster. Sevilla galt sogar einmal als ein Zentrum der Nekromantie, der Kunst der Geisterbeschwörung zwecks Gewinnung von Informationen über die Zukunft. Königin Isabella hat dem ein Ende gemacht! Nun sind die Heerscharen der Geschichte in den Hintergrund getreten, und wir müssen uns mit neuen Geistervölkern herumschlagen.« Sie beugte sich vor und starrte mich an, und ein tieferes Schweigen schien in den Raum zu sickern. »Fühlst du es nicht? Die Reglosigkeit einer leeren Stadt?«
Ich verspürte eine leichte Anwandlung von Klaustrophobie. Verärgert lehnte ich mich zurück und schob meine Schüssel weg. »Hör zu«, sagte ich. »Ich bin dankbar für deine Gastfreundschaft. Das Essen. Aber…«
Ihre Augen glitzerten. »Aber du findest, dass ich deinem kostbaren Erlebnis nicht genügend Respekt entgegenbringe.«
»Kostbar?« Ich schüttelte den Kopf. Mein Ärger wuchs. »Hältst du mich für einen neurotischen alten Narren? Glaub mir, ich kann gut auf diese Erlebnisse verzichten.«
»Ich glaube, du solltest mir lieber etwas über Morag erzählen«, sagte Rosa leise.
Ich zwang mich zur Ruhe. »In Ordnung. Ich habe sie vor… äh… siebenundzwanzig Jahren kennen gelernt. Sie war ein paar Jahre jünger als ich. Eigentlich war sie eine Freundin meines Bruders John.«
Rosa zog eine Augenbraue hoch. Wir hatten geheiratet, wir waren sehr glücklich gewesen, und wir hatten Tom bekommen. Danach hatte mich meine Arbeit häufig von zu Hause fern gehalten, aber Morag war trotzdem wieder schwanger geworden. Und dann – nun, Rosa kannte den Rest. Sie hörte geduldig zu. Diese Fähigkeit war zweifellos das Ergebnis einer vierzigjährigen Tätigkeit als Priesterin, verfehlte aber dennoch nicht ihre Wirkung.
»Und jetzt ist sie zu dir zurückgekommen«, sagte Rosa.
»So scheint es.«
»Was meinst du, warum?«
»Ich weiß es nicht! Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Und du willst, dass es aufhört?«
Ich konnte weder mit Ja noch mit Nein antworten; beides wäre wahr gewesen, beides wäre eine Lüge gewesen. »Ich will es verstehen«, sagte ich schließlich.
Sie streckte die Hand aus. Als ihre trockenen Finger meinen Handrücken berührten, durchzuckte mich ein ähnlicher Schlag wie jener, den ich am Flughafen bekommen hatte. »Versuch dich zu beruhigen«, sagte sie. »Ich musste nur sicher sein, dass du ehrlich bist.«
»Natürlich bin ich ehrlich.«
»Nun, jetzt wissen wir es beide, nicht wahr?«
Während sie etwas über mich erfuhr, fand ich auch einiges über sie heraus. Onkel George hatte mir einen Teil von Rosas Geschichte erzählt. Während dieser Mahlzeit erfuhr ich ein wenig mehr.
Wie George war sie vor fast neunzig Jahren im englischen Manchester geboren. Doch schon als ganz kleines Kind hatte man sie nach Rom geschickt und in die Obhut einer katholischen Randgruppe gegeben, die »Der mächtige Orden der Heiligen Maria, Königin der Jungfrauen« hieß – der Orden, wie George ihn nannte. George selbst war damals noch so jung gewesen, dass er die Existenz dieser zweiten Schwester völlig vergessen hatte, bis er in der persönlichen Habe seines verstorbenen Vaters zufällig auf ein Foto von ihr stieß. Der Orden war eine Ausbildungseinrichtung. Unter anderem. Rosa war von ihm großgezogen worden und hatte als Erwachsene bei ihm gearbeitet.
Als George bereits in den Vierzigern gewesen war, hatte er herausgefunden, dass Rosa existierte, und war nach Rom geflogen, um sie zu suchen. Dies war mit irgendeiner Krise im Orden zusammengefallen. Die sich anschließende Kette von Ereignissen hatte zu Rosas Ausschluss aus der Gruppe geführt, und eine Zeit lang war sie auch wieder aus Georges Leben verschwunden.
Wie sich herausstellte, war Rosa in der katholischen Kirche geblieben. Sie hatte ein Seminar besucht und schließlich
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