Transzendenz
die Priesterweihen empfangen. Jetzt, erfuhr ich, betreute sie eine weit verstreute Gemeinde, die sich über einen großen Teil der nördlichen Vororte von Sevilla erstreckte, und dazu noch einige ärmere Gemeinschaften außerhalb der Stadtgrenzen. Sie war seit drei Jahrzehnten hier, arbeitete immer noch und hatte keineswegs die Absicht, in den Ruhestand zu treten, solange ihre Kräfte noch reichten.
Bei diesen ersten Erzählungen kam mir ihre Geschichte seltsam vor. Der Orden war bereit gewesen, sie aufzunehmen, offenbar weil es eine tiefe und alte familiäre Verbindung zwischen den Pooles, der Kleinfamilie meiner Mutter in Manchester, und dem Orden in Rom gab. Aber dass eine Familie ein Kind endgültig fortschickte, war eine verblüffend schmerzhafte Angelegenheit. Und dass die Eltern George, ihren Sohn, belogen hatten, um die Existenz seiner Schwester geheim zu halten, schien mir eine schrecklich kalte und berechnende Täuschung zu sein.
Und dann war da meine eigene Mutter, dachte ich, die ein kleines bisschen älter war als ihr Bruder George und sich wahrscheinlich an all das erinnerte. Hatte sie nie daran gedacht, George etwas von Rosa zu erzählen, bevor er von selbst über das Geheimnis gestolpert war? Aber meine Mutter hatte auch mit mir nie über all dies gesprochen. So war das wohl bei Menschen verschiedener Generationen; obwohl ich in den Fünfzigern war, hielt meine Mutter ihre Probleme immer noch vor mir geheim, als ob ich ein Kind wäre.
Trotzdem war Rosas Bericht über sich selbst eine hohle Geschichte, dachte ich, eine Auflistung von Ereignissen ohne echtes Herzblut. Ich fragte mich, wie viel mehr ich davon erfahren musste, bis ich fertig war – und wie viel ich wirklich wissen wollte.
»Wie steht’s mit deinem Glauben, Michael?«
»Du meinst, an den Christengott? Eher schlecht. Tut mir Leid.«
»Nicht nötig. Ich bin trotz dem hier« – sie schnippte gegen ihren Kragen – »nicht sicher, wie es um meinen bestellt ist. Aber ich bin überzeugt, dass alles, was wir Menschen tun, einem evolutionären Zweck dient, sonst täten wir es nicht. Und ich glaube, dass Priester ebenso wie die Medizinmänner und Schamanen ungeachtet ihrer theologischen Rechtfertigung eine entscheidende Rolle zu spielen haben.
Als ich das Seminar verließ und meinen ersten Posten in einer Gemeinde hier in Sevilla annahm, bildete ich mir ein, ich wäre stark genug, mit allem fertig zu werden, was mir bei dieser Aufgabe begegnen würde. Immerhin hatte ich ja schon einige aufreibende Erlebnisse hinter mir.« In ihrem Gesicht arbeitete es kurz, aber sie äußerte sich nicht weiter dazu. »Das war ein Irrtum. Ich war schockiert.
Ich habe festgestellt, dass ich ein Kanal war, Michael. Das war meine Rolle. Ein Kanal, in den Menschen ihren Schmerz und ihre Furcht spülen konnten. Und glaube mir, davon gibt es jede Menge, selbst hier, wo es kaum noch Menschen gibt. Ich wäre beinahe davon überwältigt worden, ein Stäubchen in einem Staubsturm. Aber meine Vorgesetzten betreuten und berieten mich, und allmählich begriff ich, dass meine Pflicht darin bestand, im Angesicht dieses großen Elendswindes standhaft zu bleiben.«
»Und was ist mit Erlebnissen wie meinen?«, fragte ich behutsam. »Bist du auch schon auf solche Dinge gestoßen?«
»Mein Glaube lehrt uns, dass die Welt geheimnisvoller ist, als unsere stumpfen Sinne sie uns zeigen, Michael. So viel musst du glauben, ob du nun die christliche Erklärung dafür akzeptierst oder nicht. Und ja, manchmal war ich Erlebnissen ausgesetzt, die man als übernatürlich bezeichnen würde. Du bist Ingenieur, nicht wahr? Wahrscheinlich fühlst du dich unwohl dabei, dass ausgerechnet dir so etwas Irrationales widerfährt.«
Ich hatte es noch nie leiden können, wenn man mich in eine Schublade steckte. »Ich bilde mir gern ein, dass ich nicht ganz so engstirnig bin«, gab ich zurück.
»Nun, vielleicht hast du Recht. Schließlich bist du ja hier. Und jetzt, wo ich dich kennen gelernt habe, bin ich durchaus bereit zu glauben, dass du nicht unter Wahnvorstellungen leidest oder ein Verrückter oder ein Lügner bist; dir geschieht wirklich etwas. Also müssen wir herausfinden, was es bedeutet.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Nichts. Du sagst, dass Morag zu dir kommt, ohne dass du es willst. Dann lass sie noch einmal zu dir kommen, und wir werden sehen, was wir sehen werden.«
»Und wenn sie nicht kommt?«
Sie lächelte; ich glaubte, einen Anflug von Verachtung in ihrer Miene zu
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