Transzendenz
subtilere Weise versuchte man, die Geschlechterrollen – den unausgesprochenen Kontrakt zwischen Männern und Frauen – neu auszuhandeln. Ich habe das alles natürlich von außen beobachtet. Welch ein Schauspiel! Zum Teil hat dieses Social Engineering sogar funktioniert, beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Aber nicht in Spanien, Italien, Griechenland, den konservativeren, patriarchalischeren Ländern. Dort sind die Traditionen zu tief verwurzelt, als dass man sie so einfach ändern könnte, selbst angesichts des Bevölkerungszusammenbruchs.
Aber ich glaube, bei alledem geht es nicht nur um zu Hause bleibende Väter und um Tageskindergärten, sondern die Sache reicht erheblich tiefer – meinst du nicht? Schließlich werden hier Grundinstinkte verleugnet: der Instinkt, den Stamm fortzupflanzen, die Welt mit der eigenen Brut zu füllen, die uralten Antriebe aus der Eisenzeit, die uns befähigt haben, uns über den ganzen Planeten auszubreiten. Doch nun setzt sich eine andere, rätselhaftere Motivation durch. Früher einmal sind die Menschen in großen Wellen hierher gekommen, die Römer und die Visigoten, die Mauren und die Christen. Und jetzt gehen sie wieder fort – aber sie gehen nirgendwohin, sie verschwinden einfach in verlorene Potenzialitäten. Und wenn sie weg sind, wird nichts mehr da sein als diese schmerzhafte Leere. Aber es fühlt sich richtig an. Findest du nicht? Es entspricht der Zeit.«
»Es überrascht mich, dass du damit zufrieden bist, so allein zu leben.«
»In meinem Alter, meinst du? Oh, meine Sicherheit ist durchaus gewährleistet. Ich bin von Maschinen umgeben, so wie wir alle. Samt und sonders sinnlos intelligent. Maschinenintelligenz ist heutzutage so allwissend und allgegenwärtig, wie wir es einmal von Gott glaubten – ha! Ich bin sicher, sie würden nicht zulassen, dass mir etwas zustößt.«
»Was ist mit Verbrechen?«
»Davor habe ich keine Angst. Kriminelle sind auch lieber da, wo viele Menschen sind. Ich ziehe die Stille vor. Manchmal spürt man, wie sie aus tausend verlassenen Gebäuden um einen herum aufsteigt, aus einer Million Zimmern, in denen nur noch der Müll herumliegt. Ich fühle mich wie in einem winzigen Rettungsboot, das in der Leere treibt.«
»Und diese Gefühle gefallen dir?«
»Wo ich aufgewachsen bin, war es ganz anders«, sagte sie.
»Du meinst den Orden?«
»Dort wimmelte es nur so von Menschen. Vielleicht genieße ich an meinem Lebensabend den Kontrast.«
»Tante Rosa, ich glaube, du verbringst zu viel Zeit mit dir selbst.«
Das brachte mir ein Lachen ein. »Ja, vielleicht. Findest du mich morbide? Aber ich habe hier immer noch etwas zu tun. Du hast mich nach übernatürlichen Erlebnissen gefragt…«
Sie erzählte mir eine Geschichte. Die städtischen Behörden hatten sich einmal der entvölkerten Stadtteile angenommen, um dort für Sicherheit zu sorgen. Einige Gebäude wurden abgerissen, aber für gewöhnlich beließ man es aus eher wehmütigen Beweggründen bei den so genannten »Einmottungen«, bei denen die Gebäude gesichert und für den Tag verschlossen wurden, an dem die Menschen zurückkehren würden. Und manchmal fanden die Feuerwehrleute, Polizisten oder Umweltmanager bei diesen geduldigen Aufräumarbeiten Dinge, die sie dazu brachten, die Dienste einer Priesterin wie Rosa in Anspruch zu nehmen.
»Einmal glaubten die Arbeiter, als sie sich den Ruinen eines alten Hauses näherten, mehrstimmigen Kindergesang zu hören, wie einen Schulchor. Aber es gab dort keine Kinder. Dann entdeckten sie einen Keller. Wie sich herausstellte, war er von einem Mann benutzt worden, der über mehrere Jahre hinweg Kinder entführt hatte. Mit den näheren Einzelheiten verschone ich dich. Seine Verbrechen waren bis zu diesem Zeitpunkt nicht entdeckt worden. Die Arbeiter wollten, nein, konnten diesen Keller nicht betreten. Nicht wegen der Verwesung, dem Verfall oder der Gefahr von Krankheiten; darum hätte sich ihre Ausrüstung gekümmert. Aber es gab dort einen schlimmeren Fluch, dem ich, wie sie hofften, mit meinen Gebeten entgegentreten würde.« Sie hielt inne. Ihr kleines, verschlossenes Gesicht war jetzt völlig unergründlich. »Warst du jemals unmittelbar mit dem Bösen konfrontiert, Michael?«
»Ich glaube nicht.«
»Du wüsstest es. In Romanen wird das Böse als stilvoll und clever dargestellt. Der Teufel ist ein Gentleman! Aber das Böse ist banal. In diesem Keller… der Dreck, das Blut, die Haar- und Kleiderfetzen, selbst die Spielsachen,
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