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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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hatte man die besten Chancen, wenn man genau dasselbe tat wie die Nachbarn. Sah man sie graben, grub man; sah man sie flüchten, floh man. »Und auf diese Weise«, sagte Rosa, »bildete sich durch lokale Interaktion und Rückkopplung eine Gemeinschaft heraus, die sich von unten nach oben entwickelte.«
    Als die Regierung die Müllstadt öffnete, schickte sie Soziologen und Komplexitätsspezialisten hin, die erforschen sollten, was dort vorging. Sie fanden eine kollektive Organisation, die die Ressourcen des Riffs insgesamt fast mit maximaler Effizienz nutzte. Und dies wurde von Gruppen erreicht, die über keine gemeinsame Sprache verfügten. Sie regelten alles einfach, wie es kam.
    »Wie eine Ameisenkolonie«, sagte ich ein wenig unbehaglich.
    »Und es hat fast perfekt funktioniert. Eine vollkommene Menschenmaschine.« Es klang geradezu wehmütig.
    Diesen Tonfall hörte ich bei ihr nicht zum ersten Mal. So hatte ihre Stimme auch geklungen, als sie andeutungsweise auf einige Aspekte des Ordens in Rom zu sprechen gekommen war, der sie aufgenommen hatte. Drangvolle Enge. Unter der Erde. Von Menschen wimmelnd. Was mochte dieser Orden wohl in Wirklichkeit sein – und weshalb hatte er Rosa ausgeschlossen? Wie immer die Wahrheit lauten mochte, für mich lag auf der Hand, dass sie ihr Leben seither damit verbracht hatte, entweder sein Gegenteil in der Isolation oder sein Spiegelbild in anderen Dingen zu suchen, selbst an diesem außergewöhnlichen Ort, dem Riff: Sie hatte sich ihr Leben lang nach einer Rückkehr gesehnt.
    Unser Essen kam, Haufen von dampfenden Speisen, die von unserer Wirtin mit dem schmutzigen Gesicht auf sauberen, warmen Tellern serviert wurden. Rosa erklärte mir, es sei eine lokale Variante der Paella namens fideos a la malaguena, Paprikaschoten und Schalentiere mit Spaghetti statt Reis. Die Pasta und die Paprikaschoten waren sehr gut. Aber die Schalentiere, die Miesmuscheln und Venusmuscheln waren sandig. Ich fragte mich, aus welchem dunklen Meer sie stammen mochten, und schob sie beiseite.
     
    Unsere Mahlzeit wurde von einem Alarm unterbrochen. Es war eine klagende Sirene, die aus weiter Ferne ertönte, wie der Schrei eines riesigen Tieres, das den Kopf aus dem Müllmeer erhob. Die Wirtin kam aus der Küche und wischte sich die Hände ab. Sie schaute zum Himmel hinauf und murmelte irgendetwas vor sich hin. Rosa und ich traten aus dem höhlenartigen Restaurant ins Freie. Der Grund für den Alarm war nicht zu übersehen. Von Norden kam eine trübe rote Wolke auf uns zu, die hoch über die glitzernde Schulter des Riffs aufragte; ihre oberen Bereiche strudelten und wogten purpurrot. Das Licht wurde bereits schwächer.
    »Das haben sie nicht vorhergesagt«, meinte Rosa.
    Als ich den Hang des Riffs hinabschaute, sah ich, wie jedermann eilig Deckung suchte; die Ladenbesitzer und Standinhaber schlossen ihre Geschäfte und schnappten sich ihre Waren. Sie wimmelten überall herum, rannten über ihre Müllhalde wie die Ameisen, für die Rosa sie zu halten schien. Der Himmel wurde dunkler. Loser Abfall wehte über die Oberfläche des Riffs.
    Und dann, als das Licht fast gänzlich erlosch, sah ich sie. Sie stand am Fuß des eigentlichen Riffs, wo die untersten Schichten dem Untergang geweihter Autos im Erdreich versanken. Sie schaute zu mir herauf.
    Ich hatte sie noch nie aus solcher Nähe gesehen. Sie war es, kein Zweifel; ich erkannte ihre Augen, ihre Nase, die Lachfalten um ihren Mund. Ich hörte sogar ihre Stimme, obwohl ich nicht verstand, was sie sagte. Es war typisch für sie, jetzt im Sturm zu mir zu kommen, in einem Moment der Verwirrung.
    Rosa stand neben mir. Ich wagte es, für eine Sekunde den Blick von Morag zu wenden – ich hatte Angst, sie würde einfach wieder dorthin verschwinden, woher sie gekommen war, wenn ich wegschaute –, und ich sah, dass Rosa in dieselbe Richtung schaute wie ich; ihr kleiner Mund stand offen.
    »Rosa – du siehst sie, nicht wahr?«
    Rosa nahm meine Hand; ihr ledriger Händedruck war beruhigend. »Ich glaube schon.«
    Ich war überwältigt. Es war das erste Mal, dass jemand meine Visionen mit mir teilte. »Verstehst du, was sie sagt?«
    Ich hörte nichts als ein hastiges Geschnatter; Morag klang beinahe wie eine Aufnahme in Schnellvorlauf.
    Rosa lauschte aufmerksam. »Keine Worte«, sagte sie. »Aber es klingt wie Informationen. Strukturiert. Sehr dicht. Wir hätten einen Recorder mitbringen sollen.«
    »Ja…«
    Morag wandte sich ab, entfernte sich einen Schritt und

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