Transzendenz
und durch Arbeit vernichtet oder von den Kolonisten umgesiedelt.«
»Und da haben sie Gespenster gesehen?«
»Jüngere archäologische Forschungen zeigen einen erheblichen Anstieg okkulter Symbole und Praktiken – und das in Gesellschaften, die ohnehin vom Okkulten besessen waren. Schnitzereien in Türen. Opfer. Leichen, die ausgegraben und erneut bestattet wurden.«
»Die Spanier haben ihnen eine Heidenangst eingeflößt. Vielleicht war es eine Art Massenhysterie.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das geschah, bevor Kolumbus landete. Sicher, in diesen letzten Jahrzehnten kam eine Krise auf sie zu, eine schreckliche, genozidale Krise, die ihre gesamte Kultur vernichtete. Aber das konnten sie noch nicht wissen – jedenfalls nicht aufgrund einer Kausalkette, wie wir sie verstehen.«
Sie führte weitere Beispiele an, die mir noch obskurer erschienen.
»Ich bin beeindruckt«, sagte ich. »Von den meisten dieser Dinge habe ich noch nie gehört.«
»Wundert mich nicht«, sagte sie bissig. »Aber ich habe ja auch Zugriff auf Aufzeichnungen, die der Allgemeinheit nicht zugänglich sind.«
Ich fragte mich, wovon sie sprach. Vom Vatikan und seinen alten, geheimen Bibliotheken? Oder – noch unheimlicher – von der seltsamen Gemeinschaft, die sie aufgezogen hatte, dem Orden? Ich fragte mich, was dort für Unterlagen aufbewahrt wurden.
Aber ich konnte selbst auch ein paar Beispiele beisteuern, die ihre Theorie erhärteten. Ich erinnerte mich vage an Onkel Georges Erzählungen von UFO-Hysterien. 1960 geboren, hatte er den Kamm jener speziellen Welle der Beobachtung übernatürlicher Besuche verpasst, aber als Teenager war er für kurze Zeit von all diesen Geschichten fasziniert gewesen. Doch als die Berliner Mauer fiel und die Gefahr eines gewaltigen Atomkriegs schwand, verschwanden auch die UFOs. Das Muster war dasselbe, erkannte ich voller Unbehagen. Es war ebenfalls eine Welle übernatürlicher Phänomene im Vorfeld einer drohenden Krise gewesen, wenn man es in den Begriffen des zwanzigsten Jahrhunderts interpretierte, in einer von der Science-Fiction beeinflussten Sprache, in der es um Aliens und Raumfahrzeuge ging statt um Gespenster und Ektoplasmen. Zufällig war in diesem Fall die gefürchtete Krise, der grelle Lichtschein der Bombe, ausgeblieben.
Rosa sagte: »Und wenn man die Prämisse akzeptiert, dass Wellen solcher Erscheinungen auftreten, wenn die Menschheit vor einem Flaschenhals steht…«
»Dann müsste es in unseren Zeiten des Klimawandels auch eine solche Welle geben.«
»Ja. Und die Freisetzung der Hydrate versetzt dem Klima vielleicht den Todesstoß. Da wäre eigentlich eine Welle von Geistererscheinungen zu erwarten – von Erlebnissen in aller Welt, die genau dem deinen gleichen.«
»Okay«, sagte ich. »Angenommen, ich akzeptiere deine Behauptung, dass sich meine Erlebnisse in eine Art globaler Katastrophen-Vorahnungen einreihen. Ich verstehe nur nicht, warum. Was hat das für einen Zweck?«
»Ah«, sagte sie lächelnd. »Also, das ist die Frage eines Ingenieurs. Was ist die Funktion von alledem? Oh, ich kann mir eine ganze Reihe von Interpretationen denken… Versuchen wir’s hiermit. Alles an uns, von den Zehennägeln bis zu unseren höchsten kognitiven Funktionen, ist von der Evolution geprägt. Du weißt, das sage ich nicht zum ersten Mal. Wenn ein bestimmtes Merkmal uns keinen selektiven Vorteil böte, hätte es sich gar nicht erst herausgebildet oder wäre schon längst wieder verschwunden. Akzeptierst du das?«
Ich war nicht sicher. »Sprich weiter.«
»Wenn das stimmt, und wenn diese Erscheinungen und ihr gehäuftes Auftreten im Zusammenhang mit großen Krisen reale Phänomene sind, dann muss man fragen: Was ist der evolutionäre Vorteil? Wie können uns diese Besucher helfen?«
»Indem sie für Kontinuität sorgen?«
»Vielleicht. Eine Verbindung zwischen der besseren Vergangenheit und einer hoffnungsvollen Zukunft, durch eine desperate Gegenwart… Vielleicht braucht eine intelligente Gattung so etwas wie einen externen Gedächtnisspeicher, ein externes Massenbewusstsein, das ihr hilft, die schwersten Zeiten zu überstehen.«
»Das klingt mir reichlich dubios«, sagte ich. »Ich dachte eigentlich, Selektion finde nicht auf der Ebene der Gattung statt, sondern auf der des Individuums oder der Verwandtschaftsgruppe.«
»Mag sein. Aber wäre es nicht ein Vorteil, wenn sich so etwas wirklich herausbilden würde? Angenommen, auf dem Planeten streifen sehr viele Horden intelligenter
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