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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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Berglandschaft an. »Nicht-immersiv, wie du siehst«, sagte meine Mutter zu mir. »So kurz vor dem Zubettgehen ist Immersion schlecht für sie.«
    Ich erzählte ihnen die Neuigkeiten – oder vielmehr die Nicht-Neuigkeiten – über Tom. Als meine Mutter hörte, dass John mir half, legte sie die dünnen Vogelkrallenfinger um ihre Teetasse, hob sie an die Lippen und trank einen vorsichtigen Schluck. Sie wirkte zufrieden, war aber zu klug, um es offen zu sagen. Nach unserem Auszug hatte sie ihre Söhne immer gedrängt, eine enge Beziehung zu pflegen, miteinander in Verbindung zu bleiben; sie hatte sogar versucht, entsprechende Kontakte zwischen uns anzubahnen. Und selbst jetzt, selbst in dieser schrecklichen Zeit, wo ihr Enkel vielleicht irgendwo im Sterben lag, überlegte sie, wie sie diese neueste Veränderung in unserer Beziehung ausnutzen konnte.
    Eine Zeit lang sah ich mir zusammen mit den Kindern die VR-Bilder an. Es waren Urlaubsbilder von einer Reise in die Rockies, die sie mit ihrem Vater unternommen hatten. Sie zeigten einen schönen Ort, wo schäumende Stromschnellen sich in klare Teiche ergossen und puppenartige VR-Manifestationen der Kinder steil aufragende Felswände hinaufkraxelten. Ich erinnerte mich an einige spektakuläre Ferienreisen in unserer Kindheit, als meine Eltern mit uns auf die Galapagos-Inseln, nach Australien und in die afrikanischen Wildparks gefahren waren – an Orte voller exotischer Lebensformen, die mich verblüfft und fasziniert hatten. Heute machte sich jedoch niemand mehr auf die Suche nach wilden Tieren, weil schlicht und einfach keine mehr zu finden waren. Es gab immer noch schöne Orte in der Welt, wo reiche Leute Urlaub machten, aber sie waren so unbelebt wie diese -Landschaften aus Gestein und Wasser. Doch selbst tote Landschaften hatten sich verändert. Man sah, dass die Felswände abgesperrt und mit Drahtnetzen überzogen worden waren. Die steigenden Temperaturen destabilisierten hoch gelegene Felswände, indem sie den Permafrost tief unter ihnen auftauten. Auch Bergsteiger gehörten heutzutage zu den bedrohten Arten.
    Ich war in Gedanken versunken. Die beiden Kinder schauten mich an. In ihren vollkommen glatten Gesichtern stand unaufgeregte Besorgnis. Sie sahen aus, als wären sie darauf trainiert worden, so dazusitzen. Ich verließ den Raum.
    Nervös geisterte ich durchs Haus. Vielleicht konnte ich mir ein Wassertaxi rufen und eine Weile in die Stadt fahren. Mir eine – vorzugsweise nicht schwimmende – Bar suchen. Oder vielleicht einen Spaziergang am Strand machen. Aber ich wollte mich nicht allzu weit von John und seinen Anrufen entfernen. Selbst jetzt, selbst in einer so schrecklichen Zeit in meinem Leben, hatten er und meine Mutter Macht über mich. Ich befand mich in einer Art Gefängnis, dachte ich, zur Unbeweglichkeit verdammt von all den unausgesprochenen Regeln und Abmachungen, die sich in den zweiundfünfzig Jahren meines Lebens mit meiner Familie angesammelt hatten.
    Besiegt ging ich wieder hinauf zu Johns Zimmer.
     
    Er saß auf dem Bett und warf hin und wieder einen Blick auf Schlagzeilen auf einem Softscreen. »Nichts Neues.«
    »Hast du noch mal in deinem Büro nachgefragt?«
    »Nicht nötig. Feliz ist ein guter Junge; er wird es weiter versuchen, bis er durchkommt, und mich noch in derselben Minute anrufen. Immer mit der Ruhe. Kann ich dir irgendwas anbieten? Was zu trinken vielleicht – ich habe Bier da.«
    »Nein. Danke.«
    Mit den Händen in den Taschen schlenderte ich im Zimmer umher. John schien hier drin sogar noch weniger präsent zu sein als ich in meinem Zimmer; allerdings hätte er, so wie er nun einmal war, alles Wertvolle sicher schon längst systematisch ausgeräumt. In einer halbdunklen Ecke entdeckte ich ein kleines Bücherregal. »Hey. Da sind ja meine alten Science-Fiction-Romane.«
    »Wirklich?« Er kam zu mir herüber. Wir bückten uns Seite an Seite, Brüder, zwei stiernackige Männer mittleren Alters, die sich bemühten, die Titel auf rissigen und vergilbenden Buchrücken zu erkennen.
    »Ich dachte, die wären schon längst in den Müll gewandert«, sagte ich. »Mutter hat sie wohl bei einer ihrer Entrümpelungsaktionen hierher gebracht.« Was typisch für sie gewesen wäre, dachte ich verdrießlich; dieses Zeug war mir als Kind unglaublich wichtig gewesen, aber sie wusste noch nicht einmal, ob es mir oder John gehört hatte.
    John strich mit den Fingern über die Titel. Einige dieser Bücher stammten aus den sechziger Jahren des

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