Transzendenz
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. »Stell dir vor, der internationale Handelsverkehr fände auf der Basis einer ganz neuen Währung statt, die negative Zinsen generiert. Dann würde man seinen immer kleiner werdenden Reichtum natürlich so schnell wie möglich ausgeben, was den Handel und die Exporte anderer Staaten fördern würde. Es ist ein neues Paradigma«, sagte er. »Ein Weg, die Schuldenberge der Vergangenheit zu vermeiden und den globalen Handel zu fördern, von dem wir alle abhängig sind. Warum nicht? Geld ist nur ein mentales Konstrukt. Wir können seine Regeln so festlegen, wie wir es wünschen. Dank des China-Falls habe ich ein paar Kontakte in der Administration, und ich glaube, ich kann mir ein wenig Unterstützung verschaffen…«
Und so weiter. Ich hörte mir das alles an und spürte, wie mir übel wurde. Während ich, der Ingenieur, ein Relikt aus dem neunzehnten Jahrhundert war, eine traurige Jules-Verne-Figur, war mein cleverer Bruder vielleicht wirklich ein Archetyp unserer Zeit, ein moderner Held. »Du wirst also prominenter denn je werden«, sagte ich. »Dann gibt es gar kein Entrinnen mehr vor deinem Gesicht.«
Er lachte. Meine Worte enthielten ein Körnchen echter Bitterkeit; natürlich entdeckte er es. »Du kriegst eine Einladung zur Buchpräsentation«, sagte er.
Es gelang mir, in dieser Nacht zu schlafen, aber nur ein wenig. Früh am Morgen stand ich auf und verließ das Haus.
Ich ging zur Küste hinunter und schlenderte endlos lange am Strand entlang. Ich hatte kein bestimmtes Ziel, sondern versuchte nur, den Dingen in meinem Kopf zu entkommen, wie es mein Fluglinien-Therapeut so klug angedeutet hatte.
Überall, wohin ich kam, war die zornige See gestiegen. Das Wasser hatte Zäune weggespült, Wellen waren über Rasenflächen geschwappt, und unterspülte Palmen hingen über dem Wasser, zum sicheren Tode verurteilt. Irgendwer hatte am Rand seines Grundstücks einen Hühnerstall gebaut, keine paar Meter vom Meer entfernt. Bei starkem Wind mussten die Hühner patschnass geworden sein und Todesängste gelitten haben; ich fragte mich, was für Eier er von ihnen bekommen hatte.
Es war alles auf deprimierende Weise vorhersehbar. Florida war schon immer flach und sumpfig gewesen. In jahrhundertelanger harter Arbeit hatten die Menschen das Wasser vertrieben und einen großen Teil des Landes urbar gemacht. Doch nun kam das Meer zurück. Selbst Floridas Grundwasserschicht war mit Salz und Industrieabwässern verunreinigt. Für Fauna und Flora war das ebenfalls keine gute Nachricht. Das Salzwasser, das jetzt mit jeder Flut weiter landeinwärts vordrang, hatte verheerende Auswirkungen auf die Süßwasser-Ökologien. Kein Tourist besuchte heutzutage mehr die Everglades; die verfaulende Vegetation, welche die toten Sümpfe verstopfte, stank zum Himmel. Angeblich hatten die Alligatoren jedoch bislang überlebt, indem sie sich von dem verrottenden Unrat um sie herum ernährten; sie überlebten dieses Aussterben wie so viele andere zuvor auch.
Der Wind schlug um und wehte nun vom Meer her. Die Meeresbrise roch faulig, ein erstickender Gestank wie von brennendem Gummi. Es war ein Cocktail aus Giftstoffen, die von den ausgedehnten Industriewüsten Mitteleuropas, Afrikas oder sogar Asiens hergeweht sein mochten: Dieser Dreck stieg teilweise sehr hoch auf und konnte sogar die ganze Erde umrunden.
Ich fragte mich, wie es mir jetzt wohl ginge, wenn ich glücksmodifiziert wäre wie Johns Kinder. Ich hatte einmal mit John darüber diskutiert, das einzige Mal, dass ich es gewagt hatte, das einzige Mal, dass ich betrunken genug gewesen war und ihn ohne seine Frau erwischt hatte.
»Das Streben nach Glück ist unser unveräußerliches Recht, Michael«, hatte er gesagt. »Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind. Das ist ihr oberstes Ziel. Man versucht, sich um sie zu kümmern, man lässt ihnen eine Erziehung und Ausbildung angedeihen und gibt ihnen Geld, um ihre Chancen zu maximieren, es im Leben zu etwas zu bringen – aber das eigentliche Endziel ist, dass sie glücklich sind. Tatsächlich geht diese Diskussion bis auf Aristoteles zurück; er hat behauptet, jedes andere Gut sei ein Mittel zum Zweck, aber Glück sei der Zweck.«
»Kluger Bursche.«
»Wie wir heute wissen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand glücklich wird, zu mindestens fünfzig Prozent ererbt, selbst ohne Modifikation. Doch wir sind imstande, Modifikationen vorzunehmen. Wir sind die erste Generation, die ihren
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