Transzendenz
dachte darüber nach. »Selbst wenn man mir Morag zurückgibt, kann man nicht alles ungeschehen machen. Die Erinnerungen an ihren Tod. All dieses Leid, all diesen Schmerz. Es ist, als existiere es immer noch, irgendwo da draußen, außerhalb meiner Reichweite… Ergibt das einen Sinn?«
»Und wovor hast du am meisten Angst?«
»Dass ich sie irgendwann hassen werde«, sagte ich aufrichtig. »Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen.«
Sie richtete sich entschlossen auf. »Wir wissen nicht, wie sie hierher gekommen ist. Wir kennen die Bedeutung deiner Erscheinungen nicht, dieser seltsamen Reinkarnation. Wir haben keine Ahnung, wer auf diese Weise in deinem Leben herumpfuscht, und warum. Aber wir müssen die Situation unter Kontrolle bekommen, damit du – mit oder ohne Morag – weitermachen kannst. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir die Sache forcieren.«
»Forcieren? Wie?«
Ich wäre in tausend Jahren nicht auf das Wort gekommen, das sie als Nächstes gebrauchte.
»Exorzismus.«
52
Sie saßen in ihrer Hütte mit den halb durchsichtigen Wänden unter der hoch aufragenden Kathedrale.
»Ich habe noch immer Zweifel, was die Erlösung betrifft, Leropa.«
»Ich weiß. Die Transzendenz weiß es. Du bist zu einer Art Brennpunkt für die interne Diskussion geworden, Alia.«
»Wenn du sagen willst, dass es mir nicht zusteht, die Weisheit einer unendlichen Entität in Frage zu stellen – eines Wesens, das für mich dasselbe ist, was ich für eine einzelne Zelle meines Körpers bin…«
»Es würde mir nicht im Traum einfallen, so etwas zu sagen«, murmelte Leropa. »Deine Menschlichkeit ist der zentrale Punkt, Alia. Die Transzendenz liebt dich so, wie du bist. Und die Liebe der Transzendenz zu dir bedeutet, dass sie dich kennt – sie teilt deine Zweifel. Du bist viel wichtiger, als du ahnst.«
»Du hast schon mehrmals behauptet, dass die Transzendenz mich liebt«, sagte Alia matt. Es schien nichts zu bedeuten. Vielleicht war die Transzendenz zu groß, um zu wissen, was Liebe wirklich war. Vielleicht war die Endlichkeit des Menschen eine Voraussetzung für Liebe; vielleicht machte das Bedürfnis, einen großen Teil des eigenen begrenzten Lebens anderen zu widmen, die Liebe überhaupt erst kostbar. Oder, dachte sie schuldbewusst, vielleicht war die Transzendenz in emotionaler Hinsicht einfach unreif. Sie mochte mächtig sein, aber sie war auch sehr jung. Und wenn die Transzendenz nichts von Liebe verstand, konnte sie dann jemals die ersehnte Erlösung erlangen?
»Selbst die Wiederherstellung reicht noch nicht«, flüsterte Alia. »Wie könnte sie auch? Einfach wieder lebendig gemacht zu werden – so eine primitive, mechanische, aufoktroyierte Lösung –, ist einfach nicht genug. Verstehst du das nicht, Leropa? Michael Poole hat Morag geliebt. Seine Morag, die gestorben ist. Und seine Liebe zu seiner Morag hat letztendlich auch ihren Tod umfasst. Der Verlust hat seine Liebe tiefer, reicher gemacht. Das ist die Natur des Lebens in einem Universum voller Sterblicher. Wenn man ihren Tod nun auf primitive Weise rückgängig macht, sie einfach zurückholt, dann reißt man sie aus ihrem historischen Kontext. Wie hat Michael Poole es formuliert?«
»Die Toten werden immer toter«, sagte Drea tonlos.
»Und das könnt ihr niemals korrigieren.« Alia holte tief Luft; dies war der Kern der Sache, obwohl sie kaum wusste, wie sie es ausdrücken sollte. »Die Wiederherstellung ist vergeblich, so vergeblich, wie es das ganze Zuschauen war, das Beobachten, ja sogar die hypostatische Vereinigung. Denn selbst wenn ihr Morag Poole die Qualen ihrer Entbindung überleben lasst, existiert dieses Partikel des Leidens dennoch, draußen in einem größeren Universum der Möglichkeiten.«
Leropa starrte Alia ein paar lange Sekunden an. Zum ersten Mal entdeckte Alia Feindseligkeit in ihrem Blick. »Du lehnst die Wiederherstellung ab«, sagte Leropa. »Aber ich frage mich, was du empfinden würdest, wenn diejenigen, die du verloren hast, dir wiedergeschenkt würden.«
Ein Schatten bewegte sich über die Hüttenwand – eine menschliche Gestalt, undeutlich sichtbar, vielleicht eine Frau mit einem Säugling in den Armen. Sie ging mit unsicheren Schritten, als hätte sie sich verirrt. Dreas Augen weiteten sich, und sie klammerte sich an Alia fest.
»Leropa«, fauchte Alia, »tu das nicht.«
Leropa lächelte dünn. »Denk an deine eigene Mutter, deinen kleinen Bruder. Sie sind qualvoll gestorben, unter Schmerzen, die du
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