Transzendenz
Absolution erteilt; es gibt nichts, was ein Dämon im Verlauf des Rituals gegen mich verwenden könnte.«
»Scharlatanerie«, wiederholte John. »Was war ›Besessenheit von Dämonen‹ schließlich anderes als ein Symptom einer Krankheit – Hysterie, multiple Persönlichkeit, Schizophrenie, Paranoia, irgendeine andere Neurose –, oder auch nur eine Störung des chemischen Gleichgewichts im Gehirn? Ich frage mich, wie viele hunderte, ja, tausende seelisch kranker Menschen die Grausamkeit solcher Riten ertragen mussten.«
»Ein wenig Demut ist vielleicht durchaus angebracht«, sagte Rosa. »Voraussichtlich wird die Diagnose der ›Hysterie‹ und der ›Schizophrenie‹ in nicht allzu ferner Zukunft als ebenso töricht, ignorant und von Aberglauben geprägt erscheinen wie das Gerede von Dämonen. Außerdem, John: Glaube ist für deine Teilnahme nicht nötig. Eine Beerdigung ändert nichts an der Tatsache des Todes, aber du würdest dich trotzdem nicht weigern, an einer teilzunehmen, nicht wahr? Und wenn du teilgenommen hättest, würdest du dich besser fühlen, denn durch unsere Rituale haben wir das Gefühl, eine gewisse Kontrolle über einen solch außergewöhnlichen und mächtigen Teil unseres Lebens, ja, sogar über den Tod zu haben. Dieser Ritus ist nur eine Methode der Bewältigung des Unbeschreiblichen.«
»Das ist es also, was du heute erreichen willst? Dass wir uns alle besser fühlen?«
»Nein«, erwiderte Rosa. »Es geht nicht nur um Kosmetik. Wir haben hier ein Ritual, das seine Macht bereits bewiesen hat. Und es ist die einzige Möglichkeit, die mir einfällt, die Barrieren in Morags Innerem zu durchbrechen – mit ihrem wirklichen Ich oder demjenigen zu kommunizieren, der sie hierher geschickt hat. Das wird zumindest klar machen, dass wir den gegenwärtigen Stand der Dinge ändern wollen: Vielleicht dringt einfach nur die Tatsache dieses Wunsches durch – und dass wir es ehrlich meinen.«
»Wohin soll sie durchdringen?«, wollte John wissen. »Zu wem?«
»Ich weiß es nicht«, blaffte Rosa. »Wenn ich es wüsste, brauchten wir dies vielleicht nicht zu tun. Aber wenn du eine bessere Idee hast, bin ich ganz Ohr.«
Er hatte keine Antwort, aber ich spürte, dass er eine tiefere Angst verbarg. Wie er dort saß, die Arme verschränkt, das Gesicht zu einer finsteren Miene verzogen, fühlte ich eine Aufwallung hilfloser, beschützerischer Liebe zu ihm; trotz allem, was er getan hatte, war er schließlich mein Bruder.
Morag sagte mit ausdrucksloser Miene: »Wenn wir gegen die Tür drücken, stellen wir vielleicht fest, dass gleichzeitig jemand von der anderen Seite zieht. Tun wir es.« Ihre Stimme war klar, ruhig und stark.
Wir alle starrten sie an.
Rosa fragte: »Michael, hast du die Requisiten?«
Ich hatte eine kleine Tasche unter meinem Stuhl; nun holte ich sie hervor und öffnete sie. »Requisiten? Ist das das richtige Wort?«
»Gib sie einfach her.« Rosa klang jetzt selber grantig.
Ich holte einen kleinen Salzstreuer hervor, den ich auf den Boden neben Morags Stuhl stellte. Ein Fläschchen Wein, blutrot, stellte ich auf die andere Seite.
Tom fragte: »Was hat es mit dem Salz und dem Wein auf sich?«
»Salz steht für Reinheit«, erklärte ich ihm. »Der Wein für das Blut Christi.«
»Schade, dass wir nicht ein paar Reliquien zur Hand haben«, sagte John. »Ein Stück vom echten Kreuz. Den Zehenknochen eines Heiligen.« Er lachte, aber es war ein hohler Laut, und niemand stimmte mit ein.
Ich griff erneut in die Tasche und holte ein Kruzifix heraus. Es war ein kleiner silberner Anhänger, ein Erbstück von meinem Großvater, einem Katholiken aus Manchester, der gestorben war, als ich zehn gewesen war. Es hatte nur die Größe eines Vierteldollarstücks, mit einem kleinen Christus, wie ein Spielzeugsoldat. Aber es war ein außergewöhnlicher Moment, als ich das Kruzifix vor Morag in die Höhe hielt, und ich war mir bewusst, dass jeder das kleine Medaillon anstarrte, die Art, wie es das Licht einfing.
Ich hielt Morag das Kruzifix hin und beugte mich über sie. »Tut mir Leid«, flüsterte ich. »Ich kann nicht glauben, dass ich dir das alles zumute.«
Sie nahm den Anhänger entgegen und lächelte. Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, und ich konnte ihren frischen Atem riechen. »Es kommt alles in Ordnung. Du wirst sehen.«
Ich trat zurück und setzte mich hin.
Rosa wandte sich ihrem Buch zu. »Fangen wir an.« Sie begann zu lesen, schnell und mit leiser Stimme.
John
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