Transzendenz
ein lebendes Fossil. Von allen Großsäuger-Familien seit dem Oligozän von dreißig Millionen Jahren – auf halbem Weg zurück zu den Dinosauriern – hat es die wenigsten Veränderungen erfahren. Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten. Diese Gattung hat dreißig Millionen Jahre überdauert. Selbst die Menschen in diesem Raum hatten noch vor ein paar Monaten Gelegenheit, ihm zu begegnen, es zu berühren. Und jetzt ist es verschwunden, einen geologischen Moment nach seiner Begegnung mit der Menschheit. Einfach so. Wie alle Angehörigen der Megafauna, die die Eiszeit überlebt haben, einer nach dem anderen verschwunden sind.«
»Und Alia zufolge sind sie nicht mehr zurückgekommen«, sagte Sonia wehmütig. »Man sollte meinen, man hätte sie aus der DNA wieder erschaffen können.«
»Vielleicht gab es nicht genug Platz dafür«, meinte Rosa. »Nicht, wenn die Welt im Besitz der Menschen blieb. Wir würden nämlich nichts Größeres und Hungrigeres als uns überleben lassen.«
»Außerdem schreitet die Evolution voran und nicht zurück«, ergänzte Gea. »Wenn die Mega-Säugetiere einmal fort sind, kommen sie nie mehr wieder.«
Alia beobachtete uns. »Ihr klingt alle so schuldbewusst!«
Tom fragte: »Schauen die Menschen der Zukunft auf unsere Zeit zurück?«
»O ja.«
»Und brechen sie den Stab über uns?«
»Du meinst, ob sie euch verurteilen?« Alia lachte, ein seltsamer, jauchzender Laut, aber dann schluckte sie ihn hinunter. »Tut mir Leid. Ich weiß, das macht euch in dieser Zeit Sorgen. Wenn nicht, würdet ihr das Hydrat-Stabilisierungsprojekt gar nicht erst in Angriff nehmen.«
»Du weißt darüber Bescheid?«, fragte ich.
»Natürlich. Ich beobachte dich, Michael Poole. Aber weshalb solltet ihr verurteilt werden? Wenn eine Vogelart die andere aus dem Feld schlägt, stellt ihr dann moralische Erwägungen darüber an? Natürlich nicht. Es ist einzig und allein eine Frage der Konkurrenz um Raum in einer Ökologie.«
»So seht ihr uns also?«, fragte John bitter. »Sind wir für euch nur Tiere in einer Ökologie?«
Alia wirkte ehrlich verwirrt. »Als was wollt ihr denn sonst gesehen werden?«
»Es gibt eine heftige Diskussion um Geotech-Projekte«, warf ich ein. »Das weißt du bestimmt. Wir sind nicht sicher, ob wir das Recht haben, in planetarem Maßstab in die Geschehnisse einzugreifen.«
Auch das schien Alia zu verblüffen. »Aber ihr greift doch bereits ein.« Sie machte eine Pause, als zöge sie weitere Daten heran. »Denkt an die Erde. Zwanzig Prozent der Landmasse und ein guter Teil des Meeres sind von künstlichen Ökosystemen bedeckt. Sie enthalten jeweils eine geringe Anzahl von Arten, die für den so genannten Verbraucher ausgewählt und gezüchtet werden…«
»Farmen«, sagte Sonia.
»Ja. Ihr habt die Geomorphologie des Planeten verändert: Ihr habt riesige Stücke aus Bergen und Landschaften geschnitten, habt neue Seen angelegt und dem Meer weiteres Land abgerungen, und ihr habt vollkommen künstliche Landformen von bisher unbekannter Art erschaffen.«
Gea unterbrach sie. »Aber all das muss belanglos sein im Vergleich zu der gewaltigen Transformation deiner Zeit, einer Zeit, in der die Menschheit eine Galaxie besiedelt hat.«
»Ja, natürlich. In der Zukunft machen wir es in größerem Maßstab und besser. Aber das Formen von Planeten, Geotechnik, Eingriffe – das ist es, was Menschen tun. Die Menschheitsgeschichte war schon immer ein Geflecht von Umweltveränderungen, menschlichen Reaktionen auf diese Veränderungen, zufälligen Ereignissen… Der menschliche Wille ist nur eine Komponente. Akzeptiert es einfach!«
»Geht das schon wieder los«, nörgelte John. »Sie redet über uns, als wären wir nichts weiter als Tiere. Wie Biber, die gedankenlos Dämme bauen.«
Ich verstand seinen Groll. Aber Alia war ein höher entwickeltes Wesen. Sie verlangsamte bewusst ihre Sprache und redete mit uns, als wären wir Kinder. Für sie, dachte ich, waren wir vielleicht so geschäftig und gedankenlos, so produktiv und destruktiv wie Laubenvögel oder Biber.
Sonia beugte sich vor, so fasziniert, wie John gereizt war. »Du kennst doch bestimmt die Zukunft.«
»In gewissem Sinn«, sagte Alia.
»Was wird geschehen? Was geschieht mit uns? Weißt du, wie wir sterben?«
»Nicht bei euch allen. Aber ich weiß, wie Michael Poole stirbt«, sagte sie fröhlich. »Ich habe sein ganzes Leben gesehen – wie ein Buch, vollständig von Anfang bis Ende.«
»Ich will es nicht wissen«, blaffte
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