Transzendenz
ich.
Sie neigte den Kopf.
»Aber die Zukunft«, drängte Sonia. »Das größere Bild. Allein schon die Tatsache, dass du hier bist, dass du existierst, besagt, dass wir so bald nicht aussterben werden.«
»Die Menschheit wird den Flaschenhals also überwinden«, sagte John.
»Und was dann?«, fragte Sonia.
»Und dann? Expansion«, sagte Alia munter. »Weg vom Planeten. Zu den Sternen!«
Sonia runzelte die Stirn. »Ja, aber was wird geschehen?«
Es zeigte sich rasch, dass Alia den Fortgang der Geschichte über unsere Gegenwart hinaus – in der Tat, über meine eigene Lebenszeit hinaus – nur in groben Zügen kannte. Aber warum sollte sie auch? Wenn ich mitten in der letzten Eiszeit landen würde, was könnte ich neugierigen Jägern und Sammlern sagen, die mich nach ihrer Zukunft fragten? Es wird wärmer werden. Erheblich wärmer. Und dann: Expansion. Heraus aus euren Zufluchtsorten und auf zum Mond!
Und außerdem schien sie andeuten zu wollen, dass die Zukunft gar nicht so feststand.
»Gibt es dort draußen noch andere Kulturen?«, fragte Rosa. »Außerirdische Aliens, Zivilisationen zwischen den Sternen?«
»O ja«, sagte Alia. »Zumindest gab es sie früher. Einige ihrer Biologien sind mit unserer verschmolzen. Und man findet immer noch Ruinen.«
»Ruinen?«, sagte Sonia. »Was ist ihnen zugestoßen?«
»Wir«, sagte Tom trocken. »Fragt das Sumatra-Rhinozeros.«
Ein langes Schweigen entstand.
Rosa beugte sich vor und sah Alia an. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir zum Punkt kommen. Meinst du nicht?«
»Zum Punkt?«
»Es hat einen Grund, dass du hier bist«, sagte Rosa. »Du hast etwas vor. Und es hat mit Michael zu tun.« Sie wandte sich mir zu.
»Morag ist mir mein Leben lang erschienen«, sagte ich. »Morag, meine Frau. Schon bevor ich sie überhaupt kennen gelernt hatte, sogar schon in meiner Kindheit. Das weißt du bestimmt. Ich will wissen, was diese Geistererscheinungen bedeuteten. Hatten sie etwas mit dir zu tun, Alia? Mit deinem Beobachten?«
Erneut sah Alia seltsam niedergeschlagen aus, nach dem Ausdruck auf ihrem kleinen Gesicht, ihrer affenähnlichen Körpersprache zu urteilen, als wäre sie tatsächlich eifersüchtig auf Morag. »Ja«, sagte sie. »Es lag am Beobachten.«
Als Beobachterin hatte sie Zugang zu meinem gesamten Leben. Sie konnte nach Belieben darin eintauchen, wie in eine Direktzugriffsdatei. Natürlich wurde sie von den Schlüsselereignissen meines Lebens angezogen – und das waren für sie jene Momente, die mit den meisten Emotionen behaftet waren, mit der größten Freude und dem größten Schmerz.
»Wir sind zeitlich so weit voneinander entfernt, dass wir nicht immer sehr gut kommunizieren. Nicht mit Sprache, mit Symbolen«, sagte sie. Ich dachte an unseren vergeblichen Versuch, ihren Monolog zu dekodieren; ich wusste, dass es stimmte. »Aber Emotionen kommen durch. Rohe, starke Emotionen können Artengrenzen, ja, sogar die Zeit überwinden. Das Beobachten ist jedoch immer undicht…«
All diese Beobachtungen hatten irgendwie Löcher ins Gewebe meines Lebens gerissen.
»Wie bei den Seiten eines heiß geliebten Buches«, sagte Rosa. »Sie sind so abgenutzt vom Finger, der den Zeilen folgt, dass sie durchsichtig werden und man die nächste Seite lesen kann.«
Bei einem intensiv beobachteten Moment könne es Lecks geben, sagte Alia, bei denen Spuren von Ereignissen aus anderen Zeiten des betreffenden Lebens durchschienen. Die schönsten und schmerzhaftesten Augenblicke meines Lebens seien nun einmal mit Morag verknüpft; deshalb seien eben jene Momente durchgerieben und miteinander verbunden worden – so als wäre mein ganzes Leben mit Morag in einem einzigen, ewigen Moment vereinigt.
»Tut mir Leid, dass ich es nicht besser erklären kann«, sagte Alia.
John lachte. »Also sind wir sogar in der fernen Zukunft Umweltverschmutzer! Wenn du einen guten Entschädigungsanwalt brauchst, Michael…«
»Halt die Klappe, John.«
Rosa nickte, als wäre sie zufrieden. »Das Beobachten bringt also Zukunft und Vergangenheit durcheinander. Ich frage mich, ob das alle Gespenstergeschichten rational erklärt – die wenigen, die nicht einfach Sinnestäuschungen waren.«
Alia sagte zu mir: »Eigentlich soll das Beobachten neutral sein. Man soll das Objekt nicht stören. Nicht viele wissen, dass es einen solchen Effekt hat.«
»Ich habe geglaubt, ich sähe Morag. Ich habe mir immer eingebildet, sie wolle zu mir zurückkommen. Ich bin enttäuscht, dass alles nur so
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