Transzendenz
wütend auf jeden: auf Rosa, weil sie die ganze Sache inszeniert hatte, auf Alia, die das alles irgendwie mit ihrem »Beobachten« aus der fernen Zukunft ausgelöst hatte – und auf Morag, weil sie auf solch eine qualvoll unvollständige Weise in mein Leben zurückgekehrt war und mich dann wieder verlassen hatte. Natürlich war das alles nicht fair. Manchmal ist eben einfach der Wurm drin, sagte ich mir, und sei es ein so erstaunlicher Wurm wie dieser.
Selbst Alia trug keine Schuld. Sie mochte wie ein von der Streckbank entlassener Orang-Utan aussehen, aber in ihren Augen, in der Art, wie sie mich anschaute, hatte ich eine emotional ausgeformte Person mit ausgeprägtem Bewusstsein gesehen. Sie war zweifellos ein Produkt ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft, genau wie ich. Und so unerklärlich es war, ich hatte gemerkt, dass sie mich mochte. Es war, als hätte ich mich in Wilma Feuerstein verknallt. Was für ein Witz.
Als ich erschöpft in den Schlaf driftete, wurden meine Gedanken milder. In diesem Zustand zwischen Schlafen und Wachen hatte ich Morag früher so oft gesehen. Aber ich wusste, dass sie diesmal nicht zu mir kommen würde.
Am nächsten Tag wachte ich völlig ausgelaugt auf. Als ich den Vorhängen befahl, sich zu öffnen, gaben sie den Blick auf einen Tag frei, der selbst nach Alaska-Maßstäben ungemütlich war, mit einem Himmel wie ein stählernes Gefängnisdach. Mich befiel eine plötzliche, scharfe Erinnerung an einen völlig anderen Morgen in Florida, einen Wintertag voller hellem, kaltem Sonnenschein, an dem ich – im Alter von zehn Jahren oder so – nach draußen gegangen war, um einen Drachen, ein Frisbee, eine Wasserrakete oder sonst irgendwas fliegen zu lassen. Ich hörte das Donnern der atlantischen Brecher kilometerweit draußen, roch die See, spürte die Textur des Sandes unter meinen Füßen und auf meiner Haut. Alle Sinne bis zum Anschlag gespannt, war ich voll in die Welt eingeschlossen, und ich hatte mich noch nie so lebendig, so fröhlich gefühlt. Aber ich glaube, ich wusste, dass es nicht immer so bleiben würde. Ich würde altern, meine Augen würden glasig werden, mein Gehör würde nachlassen, meine Fingerspitzen würden sich mit totem Fleisch überziehen, und mein Körper würde wie ein Raumanzug werden und mich von der Welt isolieren. Ich wusste es schon damals, und ich fürchtete es. Und mit der Zeit war es genauso gekommen: Dies war meine Realität, mein eigener schmerzender, alternder Körper, ein Gesicht wie altes Leder, ein mit Baumwolle ausgestopfter Kopf.
Als ich die Ereignisse des Vortags überdachte – einen Exorzismus, um Himmels willen, das seltsame Erscheinen von Alia, all dieses anspielungsreiche Geschwätz über die Zukunft –, kam mir das alles töricht vor, eine Zügellosigkeit, wie die Erinnerung an eine Abendgesellschaft, bei der das Gespräch aus dem Ruder gelaufen war. An diesem Morgen erschien mir Alias Zukunft wie eine helle, glänzende Seifenblase, die irgendwie über Nacht in meinem Kopf geplatzt war. Und Wirklichkeit bedeutete Verantwortung: Verantwortung für meine reale Arbeit, das Hydratprojekt.
Also ging ich an die Arbeit.
Ich genehmigte mir ein schnelles Frühstück im einzigen Coffee Shop von Deadhorse und machte mich auf den Weg zu den Büros, die EI in einem kleinen dreistöckigen Block eingerichtet hatte. Ich suchte mir eine Arbeitsnische aus, startete einen Softscreen, indem ich mit dem Fingernagel darauf tippte, und rief Shelley an. Während ich darauf wartete, dass sie sich meldete, schaute ich meine Post und andere Tätigkeitsberichte durch und versuchte mich zu orientieren, wohin sich das Projekt während meiner Abwesenheit in anderen Regionen entwickelt hatte.
In technischer Hinsicht lief alles bestens. Der Bombenanschlag hatte uns in gewissem Sinn gut getan; das zusammengestoppelte Kernstück unserer Prototyp-Anlage war weggefegt worden, und Version Zwei erwies sich als weitaus bessere Ausgabe. Außerdem schauten wir allmählich über den Tellerrand hinaus. Mit den Kanadiern hatten wir erste Gespräche über einen umfangreicheren Einsatz unserer Technik an ihrer arktischen Küste geführt, und die russische Regierung hatte uns bereits die Genehmigung erteilt, eine weitere Pilotanlage vor der sibirischen Küste zu errichten.
Um den Auftrag zur Entwicklung einer globalen Lösung zu bekommen, brauchten wir natürlich die Unterstützung der amerikanischen Regierung, der Vereinten Nationen und der Patronats-Organisationen. Aber
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