Transzendenz
Brüder.«
Der Verlust stand ihm in das breite Gesicht geschrieben, und sie verspürte einen leisen Anflug von Reue. Aber sie kehrte ihm den Rücken zu und ging davon.
Reath gesellte sich zu ihr. »Warst du nicht ein bisschen hart zu ihm?«
Sie funkelte ihn wütend an, ohne zu antworten.
Er seufzte. »Ich vermute, es ist eine Zeit der Veränderung für uns alle.«
»Was ist mit dir, Reath? Was wirst du jetzt tun?«
»Oh, für mich und meinesgleichen gibt es immer eine Aufgabe«, sagte er trocken. »Viele der großen Projekte des Commonwealth werden weitergeführt, ganz gleich, was die Transzendenz als Nächstes zu tun beschließt: Die politische Wiedervereinigung der verstreuten Unterarten der Menschheit ist ein lohnendes Ziel.«
»Das ist sehr großmütig, Reath.«
Sie kamen zu Drea, die mit gelangweilter Miene auf einem Block aus verwittertem Schutt saß.
Reath fragte: »Und wie steht’s mit euch beiden? Wohin werdet ihr als Nächstes gehen?«
»Zurück zur Nord«, sagte Drea sofort. »Was sonst? Die Nord ist unsere Heimat. Außerdem glaube ich, dass mein Vater uns jetzt braucht.« Sie nahm die Hand ihrer Schwester. »Alia?«
Aber Alia antwortete nicht. Sie fand eine ausformulierte Entscheidung in ihrem Kopf, eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Nein, nicht zur Nord«, sagte sie. »Oh, ich werde meinen Vater vermissen – und dich auch, Drea. Ich werde euch besuchen; das werde ich immer tun. Aber…« Aber sie konnte nicht mehr dort leben. Sie hatte zu viel gesehen. Die Nord und ihre endlose Reise genügten ihr nicht mehr. »Ich werde mir eine eigene Aufgabe suchen. Vielleicht kann ich ebenfalls fürs Commonwealth arbeiten… Eines Tages finde ich eine neue Heimat.« Sie zog Drea auf die Beine und umarmte sie. »Irgendwo, wo ich selbst Kinder haben kann!«
Drea lachte, aber ihr standen Tränen in den Augen.
Reath musterte die beiden ernst. »Alia.« Sein Ton war feierlich, beinahe tadelnd; genauso hatte er mit ihr gesprochen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
»Was ist nun schon wieder, du altes Relikt?«, blaffte sie nicht unfreundlich.
»Wenn dies deine wahre Absicht ist, dann musst du aufpassen.«
»Worauf?«
»Auf dich.« Er habe es schon früher erlebt, sagte er, Auserwählte, die es nicht geschafft hätten, oder sogar reife Transzendenten, die aus Gesundheitsgründen oder wegen Verletzungen gezwungen gewesen seien, sich aus dem großen Geistesnetz zurückzuziehen. »Die Transzendenz vergisst man nie. Man kann es nicht. Nicht, wenn man sie einmal erlebt hat, denn sie ist eine Öffnung des Geistes über die Barrieren des Ich hinaus. Du denkst vielleicht, du wärst sie los, Alia, aber sie lauert immer in dir.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wenn du zwischen den Sternen umherstreifst, dann vergewissere dich, dass du dich selbst suchst – und nicht die Transzendenz, denn die ist für dich endgültig verloren.«
Aus einem spontanen Impuls heraus nahm sie seine Hände; sie waren warm und ledrig. »Du bist ein guter Freund, Reath. Und wenn ich jemals in Schwierigkeiten gerate…«
»Ich bin nicht schwer zu finden«, sagte Reath lächelnd.
»Ich weiß.«
Leropa löste sich aus der Schar der Unsterblichen. Sie kam auf Alia zu, so verschlossen und rätselhaft wie immer. Die anderen traten unsicher zurück; Alia sah, dass sie sich vor ihr fürchteten.
Leropa sagte: »Die Transzendenz stirbt.«
Alia war schockiert. Neben ihr grunzte Reath, als hätte man ihm einen Faustschlag versetzt.
Leropa fuhr fort: »Oh, keine Angst. Sie wird nicht zusammenbrechen – weder heute noch morgen.«
»Aber die größeren Ziele«, sagte Alia, »all diese Pläne für die Unendlichkeit…«
»All das ist verloren. Vielleicht war das Projekt von Anfang an fehlerhaft. Wir Menschen sind vom Schicksal geschlagen. Zu ruhelos, um jemals zufrieden zu sein, zu begrenzt, um Götter zu werden: Vielleicht war dieses Ende von vornherein unvermeidlich. Die Erlösung war unser bester und tapferster Versuch, einen Gott aus dem Lehm der Menschheit zu formen. Aber es ist uns nur gelungen, das Schlechteste zugleich mit dem Besten zu verstärken, all unsere atavistischen Sehnsüchte. Und deshalb wird die Transzendenz sterben – aber wir haben es wenigstens versucht!
Dies ist ein entscheidender Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte, Alia, die Flutmarke des menschlichen Strebens. Wir hatten vermutlich das Privileg, sie zu sehen. Aber jetzt müssen wir den Rückzug
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