Transzendenz
Aber niemanden stört es. In Alias Sternenschiff finden die Leute es schön, wenn der Himmel voller Babys hängt. Wenn man größer wird, verkümmert die Skimfähigkeit. Ich hatte den Eindruck, dass Alia nah an diesem Übergangsalter war, aber sie wollte nicht daran denken. Sein ganzes Leben lang ist man über die unbeweglichen Scharen plumper Erwachsener hinweggeflitzt. Jetzt wird man hinabgezerrt und muss sich zu ihnen gesellen, und dann sitzt man für immer in einer Raumzeit fest, die auf einmal so dick ist wie Kleister. Was für ein Geschenk zum Erwachsenwerden, als ob einen sämtliche Plagen des Alters auf einmal träfen.
Manchmal träume ich davon, das alles aufzuschreiben, einen Roman daraus zu spinnen. Ich könnte den Verlust des Skimmens als Metapher fürs Erwachsenwerden benutzen. Oder für die Misere der Transzendenz, kurz vor der Gottwerdung und dennoch unfähig, ihre menschliche Vergangenheit loszuwerden. Ich könnte Georges alter Science-Fiction-Bibliothek ein oder zwei Titel hinzufügen. Niemand würde jemals merken, dass ich alles nur geklaut habe.
Mein Kontakt mit der Transzendenz ließ mich am Boden zerstört und völlig erschöpft zurück. Es war wie beim Bombenanschlag auf das Kühlschrank-Projekt, im Moment der Explosion: die Welt ein plötzliches Chaos, der ungeheure Schlag der Detonation vor die Brust. Es war wie damals, aber es nahm kein Ende.
Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an die Wochen, die darauf folgten. Tom und Sonia kümmerten sich während dieser Zeit um mich. Wenigstens war ich kein hoffnungsloser Fall. Ich konnte mich eigenhändig anziehen und allein auf die Toilette gehen. Ich arbeitete sogar weiter am Hydratprojekt, in gewissem Maße. Ich habe Notizen, die es beweisen, obwohl sie sich jetzt lesen, als hätte sie jemand anders geschrieben. Aber ich vergaß beispielsweise immer wieder, etwas zu essen. Ich vergaß, wie spät es war, blieb die ganze Nacht auf und wurde vom Tagesanbruch überrascht. Solche Dinge.
Es war eine Zeit, in der ich meine Mutter gebraucht hätte, denke ich. Aber sie starb kurz darauf, nicht lange nach ihrem Bruder George. Eine Ironie, einer der kleinen Scherze des Lebens. Sie fehlt mir natürlich.
Ich glaube, Tom und John stritten sich, wer für mich verantwortlich sein sollte: »Du bist sein Bruder.« – »Du bist sein Sohn.« Aber sie hielten es vor mir geheim. Mich stört das nicht; wenn ich dazu imstande gewesen wäre, hätte ich mitgestritten. Wir waren einander nie wieder so nahe wie während der Krisenzeit. Vielleicht reicht es zu wissen, dass wir bei Bedarf füreinander da waren. Komischer Haufen, wir Pooles.
John drang von Anfang an instinktiv darauf, dass wir all diese Seltsamkeiten vor den Behörden geheim hielten, und obwohl einige Merkwürdigkeiten – nicht zuletzt Morags Inkarnation – ans Licht der Öffentlichkeit kamen, gelang es uns – mit Geas subtiler Hilfe, glaube ich. Nicht einmal die Verschwörungstheoretiker mit ihren superstarken Such- und Kreuzkorrelationsmaschinen witterten etwas.
Erstaunlich, wenn man darüber nachdenkt. Ich habe die Menschheit in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gerettet, aber niemand weiß es.
Nicht einmal ich selbst bin mir sicher. Was habe ich denn eigentlich getan?
Wenn ich mich an die Transzendenz zu erinnern versuche, ist es, als wollte ich mir einen Traum ins Gedächtnis rufen. Je mehr man daran denkt, desto mehr entzieht er sich einem. Oder es ist wie bei meinen Morag-Erscheinungen: flüchtige Eindrücke, große Distanz, die man erfolglos zu überwinden versucht. Mir ist, als hätte ich für eine Sekunde durch ein winziges Loch eine unermesslich große, prächtige Landschaft gesehen. Doch während die Zeit vergeht und das unmittelbare Erlebnis der Transzendenz immer weiter in den Hintergrund tritt, bleibe ich mit Erinnerungen an Erinnerungen zurück, wie polierte Kieselsteine. Mit der Zeit ist sogar das Gefühl der Frustration gewichen.
Geas Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen ging erstaunlich glatt über die Bühne.
Sie fügte sogar einen kurzen Appell im Namen ihrer Mit-KIs wie auch ihrem eigenen hinzu. Wir Menschen seien nicht mehr allein auf dem Planeten, erklärte sie. Wir hätten die Pflicht, für unsere Kinder zu sorgen. Schließlich, sagte Gea, sei eine KI wie sie im Gegensatz zu uns nicht durch die menschliche Biologie beschränkt. Sie sei potenziell unsterblich. Doch dieses ganze Potenzial würde vernichtet, wenn das Gefüge unserer
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