Transzendenz
erschaffenen Umgebung. Die Nord war eine kleine, lebenswerte Welt in menschlichen Dimensionen, wo jeder jeden kannte. Und sie war in steter Entwicklung begriffen; jeder Aspekt ihrer Konstruktion war von menschlichen Launen geprägt. Als kleines Kind war sie gern ins Museum der Nord gegangen, wo es eine Ausstellung aller Ausformungen des Schiffes seit seinem Start vor langer Zeit gab, rekonstruiert aus Aufzeichnungen oder archäologischen Spuren im Gefüge der Nord. Im Lauf der Jahrtausende hatte sich das Raumfahrzeug verwandelt und gemorpht wie eine Puppe, die sich in ihrem Kokon windet, und ihre Besatzung hatte jeden Aspekt ihrer Geometrie geformt.
Aber ein Planet war etwas anderes; er trug schwer an der Last seiner gewaltigen geologischen Trägheit. Der größte Teil seiner Masse war ja sinnloserweise in seinem Innern eingeschlossen und zu nichts anderem nütze, als ein Schwerefeld zu erzeugen, das man mit dem simpelsten Trägheitsadjustor nachbilden konnte!
War die Rostkugel schon von Anfang an ein öder Ort gewesen, so hatten ihre menschlichen Kolonisten daran nicht viel geändert, dachte Alia. Die schmucklose Monotonie der hiesigen menschlichen Lebenswelt verblüffte sie. Obwohl die Städte durch mehrstündige Reisen über die Oberfläche getrennt waren, hatten sie in ihrer gesichtslosen, gedrungenen Architektur große Ähnlichkeit miteinander; es gab keine ausgeprägte lokale Identität. Und es gab keine Kunst, soweit sie sah, nichts außerhalb des Funktionellen.
»Lethe, ich hasse Planeten«, sagte sie. »Nimm’s mir nicht übel.«
»Schon gut«, erwiderte Bale ausdruckslos-höflich.
Es war eine Erleichterung, als sie das Meer erreichten.
Das Wasser sammelte sich in einem komplizierten Mehrfachbecken, das durch eine Reihe von Einschlägen ins Eisen getrieben worden war. Wellen brachen sich an einem Ufer aus hartem, rostrotem Eisen; wegen der höheren Schwerkraft waren die Wellen niedrig, aber schnell.
Zu ihrer Überraschung sah Alia hier Menschen, die sich in kleinen Gruppen am Ufer versammelt hatten. Fliegende Händler boten Essen, Wasser, Souvenirs und simples Spielzeug feil. Es war ein fröhlicher Ort, der fröhlichste, den sie bisher auf der Rostkugel gesehen hatte; die Leute amüsierten sich. Doch während sie durch Scharen rennender Kinder, geplagter Eltern und träger Liebespaare schlenderte, fehlte ihr irgendetwas. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass keine Musik zu hören war, kein einziger Ton.
Bales Beispiel folgend, ging Alia zum Rand des Wassers und zog sich aus. Unwillkürlich musterte sie Bales Körper, die kräftigen Gliedmaßen, die Muskelpakete an seinem Bauch.
Er fing ihren Blick auf.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Es liegt einfach daran, dass unsere Körper so verschieden sind.«
Das stimmte. Alia war erheblich größer und schlanker, ihre Arme waren fast so lang wie ihre Beine, und ihr Fell hing in der hohen Schwerkraft matt herunter. Demgegenüber war Bale untersetzt und breit, geformt von einem lebenslangen Kampf gegen den erbarmungslosen Druck der Schwerkraft.
Seine Arme waren kurz und massiv, aber unbeweglich an den Schultern und in den Gelenken. Sein Rückgrat war ebenfalls starr, eine Knochensäule. Dies war keine Welt, auf der man viel kletterte, dachte sie; Bale war in Wirklichkeit ein echterer Zweibeiner als sie.
»Wir sind verschieden, weil wir auf verschiedenen Welten leben«, sagte Bale.
»So ist es.«
»Aber Reath hat dich hierher geschickt, weil wir nicht zu verschieden sind, weil wir ähnlich sind.«
»So?«
Bale lächelte. »Unvermittelte Kommunikation ist auch ohne eine zusätzliche Dosis Fremdartigkeit anstrengend genug.«
Daraufhin fragte sie sich, wie fremdartig ein Mensch sein konnte.
Nackt gingen sie nebeneinander ins Wasser. Es bewegte sich schnell und war turbulent. Alias durchnässtes Fell trieb um sie herum. Sie war schon früher geschwommen, aber nur in Nullschwerkraftblasen auf der Nord, wo der nächste Meniskus höchstens hundert Meter entfernt lag. Es war sehr seltsam, in einen um Größenordnungen voluminöseren Wasserkörper zu steigen, eine bodenlose Grube. Bales beiläufige Warnungen vor gefährlichen Strömungen und Unterströmungen trugen nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Sie verspürte jedoch eine unerwartete Erleichterung, als das Wasser endlich so tief war, dass sie die Füße vom Boden lösen und treiben konnte. Sie fühlte, wie sich ihre Muskeln in der hoch willkommenen ersten Erholung von der Schwerkraft seit
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