Transzendenz
steigt. Deine Erinnerungen sind genauer, und du siehst sie deutlicher.«
»Aber ich finde es scheußlich! Ich sehe mich besser denn je, aber was ich sehe, gefällt mir nicht. Am liebsten würde ich mir die Finger in die Ohren stecken, die Augen schließen und mich abwenden. Mich ablenken, bis ich vergesse.«
Bales Großtante sagte: »Das haben wir alle durchgemacht.«
Alia seufzte. »Aber sich abwenden wird nicht mehr funktionieren, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Bale. »Wäre es dir denn lieber, dich nicht zu kennen?«
»Momentan schon!«
In dieser Nacht lag sie wach, allein im Dunkeln.
Sie hatte Bales freundliche Einladung abgelehnt, das Bett mit ihm zu teilen. Selbst Stunden nach dem Verhör konnte sie nicht aufhören, in sich hineinzuschauen und über sich nachzudenken. Sie versuchte, sich in ihr Beobachten zu vertiefen, aber plötzlich schienen sie nicht einmal Pooles Kapriolen und Bemühungen ablenken zu können.
Und überhaupt beneidete sie ihn, erkannte sie widerstrebend. Poole war für seine Zeit ungewöhnlich hellsichtig gewesen. Trotzdem hatte er in einer Art Traum gelebt. Wie bei jedem Menschen waren seine Erinnerungen auf unvollkommene Weise im biochemischen Mischmasch seines Nervensystems gespeichert. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er die Geschichte seines Lebens unablässig redigiert, um unlogischen Situationen Logik einzuhauchen, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken und die Ereignisse in den Griff zu bekommen. Es gab vernünftige Gründe dafür. Das menschliche Gedächtnis war nie als objektives Aufzeichnungssystem gedacht gewesen, sondern als Unterstützung des Ichs: Ohne die tröstliche Illusion, die Dinge im Griff zu haben, hätte Poole angesichts eines willkürlichen Universums vielleicht den Verstand verloren.
Doch all das war nun anders. Ihr Bewusstsein war dem von Poole bereits vor ihrer Ankunft auf der Rostkugel überlegen gewesen; dafür hatten eine halbe Million Jahre der Evolution gesorgt. Außerdem hob die von den Campocs initiierte Umgestaltung, bei der ihre Neuronen kaum merklich auf ständig neue Weise verknüpft wurden oder was auch immer in ihrem Kopf geschah, die Kluft weiter hervor. Ihr Gedächtnis war das perfekteste Aufzeichnungsinstrument, das eine Technologie nur bieten konnte. Der Nebel war vertrieben und ihre Selbstwahrnehmung so klar, dass sie jegliche tröstliche Selbsttäuschung unmöglich machte. Ihr Wissen über sich selbst war akkurat und vollkommen erbarmungslos.
Sie rief Reath im Orbit an.
»Keine Angst«, sagte er. »Das ist nicht… äh… von Dauer. Dieses neue Wissen über dich selbst bleibt dir nicht erhalten. Ebenso wenig hast du schon eine ›Unsterblichkeitspille‹ genommen, wie du es nennst. Ich habe dich hierher gebracht, um dir ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es sein könnte, in diese zweite Implikation einzutauchen. Aber du hast noch keinen unwiderruflichen Schritt auf dem Weg zur Transzendenz getan.«
»Ich verstehe, weshalb es notwendig ist«, sagte sie. »Diese kalte Selbstwahrnehmung. Aus einem Haufen Träumer kann man kein Superhirn machen.«
»Aber es ist unangenehm, nicht wahr?«
»Du machst dir keine Vorstellung.«
»Was wirst du tun, wenn du deine Schwester wieder siehst?«
»Mich entschuldigen«, sagte sie inbrünstig.
»Deine Zeit auf der Rostkugel ist fast um, Alia.«
»So?«, fragte sie überrascht.
»Die Rosties können dir nur noch eines zeigen – oder vielmehr dir helfen, es in dir zu entdecken. Aber du musst selbst entscheiden, ob du diesen letzten Schritt tun willst.«
»Ich habe die Wahl?«
»Die hattest du immer, mein Kind. Das solltest du inzwischen wissen. Versuch ein wenig zu schlafen.«
Aber so sehr sie sich auch bemühte, allein mit sich in der Dunkelheit, der Schlaf wollte nicht kommen.
Ein weiterer Tag – ihr letzter auf der Rostkugel –, und eine weitere Sitzung in dem düsteren Raum mit den Campocs und deren großer Familie.
Heute war es jedoch irgendwie anders. Sie ließ den Blick über die Gesichter schweifen, die im weichen, rosafarbenen Licht im Raum sanft zu leuchten schienen. Alle Gesichter waren ihr zugewandt, mit offener Miene. Sie betrachteten sie, sie dachten über sie nach und darüber, was sie seit ihrer Ankunft in dieser Gemeinschaft von sich preisgegeben hatte.
Und plötzlich betrachtete sie sich selbst. Es war ein Blick aus vielen Perspektiven, als hätten sich die Augen um sie herum in Spiegel verwandelt. Sie hatte einen weiteren jähen Übergang
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