Transzendenz
wenig wie du mich davon abhalten kannst, Raumschiffe zu entwerfen.«
»Also, wie soll es nun weitergehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Weißt du, die Ironie an der Sache ist, dass wir beide Recht haben.«
»So?«
»Sicher. Ich habe Recht, wenn ich an eine große Zukunft für die Menschheit glaube. Die Kuiper-Anomalie ist der Beweis dafür, dass es möglich ist: Jemand anders hat seinen Flaschenhals überwunden und dieses Ding da hingehängt. Aber du hast Recht, wenn du mit den Problemen der Gegenwart fertig zu werden versuchst, denn wenn wir nicht durch den Flaschenhals kommen, wird es keine Zukunft mehr geben. Ich habe genug von den Unterschieden zwischen uns gehört. Wir sollten versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden.«
Das überraschte ihn. Er schien darüber nachzudenken. In diesen wenigen Sekunden spürte ich, wie ein Teil der Spannung zwischen uns wich. Wir hatten beide gesagt, was uns auf der Seele lastete, wir hatten beide Treffer gelandet.
»In Ordnung.« Er stand auf. »Wir können zumindest versuchen, uns nicht zu streiten.«
»Ganz meiner Meinung.«
»Dad, ich glaube, ich muss jetzt Physiotherapie machen und noch ein bisschen schlafen.«
Ich verstand die Andeutung. Ich erhob mich und ging zur Tür. »Vielleicht sehen wir uns morgen früh?«
»Ja. Hör mal, Dad – kann sein, dass du ein blödes Arschloch bist, wie Onkel John sagt, aber du bist trotzdem mein Dad. Ich hab dich nun mal am Hals.«
»Dito«, erwiderte ich inbrünstig.
»Aber hör auf mit diesem Geisterquatsch, ja? Mach eine Therapie, Herrgott noch mal.«
Ich seufzte. »Das musst du deiner Mutter sagen. Gute Nacht, mein Sohn.«
Ich schloss die Tür hinter mir.
18
Am dritten Tag auf der Rostkugel ging Alias Verhör weiter – denn als solches betrachtete sie die Gespräche inzwischen.
Und heute erfuhr sie endlich, was diese seltsame, öde Welt ihr zu bieten hatte.
Man brachte sie wieder in den dunklen Raum mit den Eisenwänden. Die drei Campocs – Bale, Seer und Denh – waren auch diesmal da, umgeben von einer geringfügig anders zusammengesetzten Gruppe ihrer Verwandten.
Alia wurde erneut gebeten, von ihrer Schwester zu erzählen. Sie ging noch einmal durch, was sie zuvor gesagt hatte, und versuchte, weitere Erinnerungen auszugraben, mehr Bedeutung aus den Geschehnissen herauszukitzeln. Aber sie fühlte sich dabei zunehmend unwohl. Ihre witzigen Geschichten, wie sie ihre Schwester hereingelegt, ausgestochen oder in Verlegenheit gebracht hatte, kamen ihr nicht mehr so toll vor.
»Unter Geschwistern gibt es immer Rivalität«, sagte Bales Großtante. »Das ist ganz einfach menschlich, und es ist zweifellos von der alten Erde exportiert worden.«
Ja, vielleicht. Aber in all den Jahren hatte Alia diese Rivalität immer und immer wieder auf Kosten ihrer Schwester ausgelebt. Sie hatte sie in gewissem Sinn tyrannisiert, dachte Alia jetzt, denn Drea war hilflos gewesen: Alia war ihre Schwester, und ganz gleich, was Alia mit ihr machte, die liebe, phlegmatische Drea würde immer wieder ankommen und sich noch mehr antun lassen. Auf irgendeiner Ebene hatte Alia das gewusst und Dreas Loyalität ausgenutzt.
»Ich habe mich schrecklich benommen«, sagte Alia.
Als sie zu diesem Schluss gelangte, waren die Mienen der Rosties aufmerksam, interessiert, engagiert und mitfühlend; analytisch, ohne sie jedoch zu verurteilen.
»Du hast Fehler«, sagte Bale. »Wir alle haben Fehler. Aber es ist am besten, wenn man darüber Bescheid weiß, wenn man in sich hineinschaut und ehrlich zur Kenntnis nimmt, was man erblickt.« In der Art, wie er das sagte, lag eine gewisse Intensität. Sie spürte, dass er sie zu einer neuen Erkenntnis führte.
Alia schaute in sich hinein. Und sie begann zu verstehen.
Etwas war anders: etwas an ihrer Selbstwahrnehmung. Ihre Erinnerungen waren noch nie so scharf, so präzise gewesen; es war, als hätte sie einen Gelehrten im Kopf, der das schlampige Archiv ihrer Erinnerung an die Vergangenheit, ihr Selbstbild auf Vordermann brachte. Und gleichzeitig sah sie dieses Bild mit einer bisher unbekannten, erbarmungslosen Klarheit.
Sie hatte sich innerlich auf subtile Weise verändert.
»Wie macht ihr das? Liegt es am Dunst? Oder war es ein chemischer Transfer, als du mich berührtest…«
»Das Wie spielt keine Rolle«, sagte Bale. »Abgesehen davon machst du es selbst. Bewusstsein ist Selbstwahrnehmung, und das Ich ist in der Erinnerung aufgezeichnet. Du wirst bewusster, denn die Qualität deiner Wahrnehmung
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