Transzendenz
vollzogen, eine zusätzliche Erweiterung ihres Wahrnehmungsvermögens erfahren, als hätte sich eine Tür geöffnet und Licht hereingelassen. Ihr wurde bang ums Herz; sie hatte sich noch nicht von dem Erlebnis am Vortag erholt.
Bale nahm ihre Hand. Erneut spürte sie den Schock des körperlichen Kontakts, aber nicht so wie zuvor; es war nur ein weiteres Glied in einem Netz von Verbindungen. Und außerdem lag eine Zärtlichkeit in seiner Berührung, seitdem sie mit ihm zusammen gewesen war.
»Fühlst du es?«, fragte er.
»Ich glaube schon…« Während er ihre Hand hielt, geriet der Eindruck der erweiterten Perspektive ins Wanken, brach jedoch nicht zusammen.
»Jetzt kannst du dich durch meine Augen sehen«, sagte er. »Du kannst in die Erinnerungen schauen, die in mir gespeichert sind, auch in meine Erinnerungen an dich. Und ebenso bei den anderen. Es ist, als wären wir in diesem Raum alle ein einziger Geist, ein vereinigtes Nervensystem, in dem Erinnerungen und Denkprozesse verteilt, aber dennoch verbunden sind. Du kannst dich selbst betrachten, nicht nur aus deinem eigenen Kopf heraus, sondern auch durch den Geist anderer.«
Sie erklärten ihr, dies sei nötig, damit der Geist wachsen könne. Wenn das Bewusstsein auf der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung begründet war, so konnte sie sich nun auch durch die Augen anderer betrachten – und so wurde ihr Bewusstsein qua definitionem um eine Größenordnung verstärkt.
»Es ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig«, sagte Denh.
»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Seer ihm kläglich bei.
Alia fragte: »Wieso?…«
Die Kommunikation fand nicht auf geistiger Ebene statt, denn das ging nicht; Geist war nur eine emergente Eigenschaft des Gehirns, des Körpers. Aber es schien, als wären die körperlichen Grenzen zwischen einem Nervensystem und dem anderen bedeutungslos geworden. Es gab eine sehr alte Technologie, erfuhr sie, oder vielleicht eine Biologie, die Menschen auf einer tieferen Ebene als jener der Worte miteinander verbinden konnte. Manche behaupteten sogar, diese Eigenschaft stamme von einer fremden Spezies, die längst von der Menschheit assimiliert worden sei. Ihr Ursprung spielte jedoch keine Rolle.
»Das ist unvermittelte Kommunikation«, sagte Bale. »Es gibt keine symbolischen Grenzen. Du wirst wissen, was ich denke, noch während ich es denke – und auch ich werde deine Gedanken kennen, als ob es meine wären, so direkt wie eine Umarmung oder wie ein Schlag auf den Mund.« Er zögerte. »In dir ist sie noch nicht voll entwickelt. Selbst wenn du weitermachst, kannst du noch zurück. Willst du…«
»Ja«, sagte sie, ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen. »Tu es.«
Auf einmal erstrahlten die Spiegelgeister im Raum hell – alle Grenzen zwischen ihnen lösten sich auf –, und sie sah sich nicht nur in diesem Moment, sondern auch so, wie die Rosties sie im tiefsten Innern wahrnahmen. Sie durchstöberte deren Erinnerungen und sah, wie sie sich bei ihren Gesprächen verhalten hatte. Sie sah ihre eigene Körpersprache, sah, wie ihre Schüchternheit beim Reden langsam der Begeisterung gewichen war – und wie ihre Worte manchmal nicht die ganze Wahrheit enthalten hatten, wie sie ausgewichen war, den Blickkontakt abgebrochen, sich abgewandt, grundlos gelacht und mit ihrem Körperfell herumgespielt hatte.
Sie wusste, wie diese Leute über sie dachten. Es war schockierend, verwirrend.
Doch als sie sich durch ihre eigenen Augen und die der anderen betrachtete, war das Ich, das sie sah, nicht so schlimm. Ja, sie war manchmal boshaft zu ihrer Schwester gewesen, angespornt von ihrer Rivalität. Aber solche in der Erinnerung so stacheligen Vorfälle hatten nur einen kleinen Bruchteil ihrer Beziehung ausgemacht. Sie war nur ein Kind, viel versprechend, fehlerhaft, ungeformt. Sie hatte es nicht besser gewusst.
Und sie merkte zu ihrer Überraschung, dass sie sich verzieh. Auf einmal weinte sie, und vor ihren Augen verschwamm alles in Tränen.
Ein Arm legte sich um ihre Schultern: Bales Großtante. »Ist ja schon gut«, sagte sie. »Das machen wir alle durch. Drei Schritte. Du musst dich sehen; du musst dich akzeptieren; und du musst lernen, dir zu vergeben. Aber Vergebung ist genauso schwer wie Selbstvorwürfe, nicht wahr? Schon gut; das geht vorbei.«
Die Transzendenten waren ebenso miteinander verbunden wie diese Rosties. Angesichts ihres hohen Alters, ihrer Komplexität und ihrer Weisheit war die Transzendenz sicherlich noch weitaus mehr. Aber
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