Transzendenz
diese außergewöhnliche geistige Verbindung war ihr Fundament.
Und nun glaubte sie, die seltsame Gemeinschaft der Rostkugel zu verstehen. Hier gab es keine Kunst, keine Musik, keinen Ausdruck, keine Individualität, weil sie nicht benötigt wurden. Kunst war nur eine Form der Kommunikation, und eine symbolische obendrein. Wer brauchte die unvollkommenen Kanäle von Kunst oder Musik, wenn man direkt auf die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle anderer Menschen zugreifen konnte? Warum sollte man sich abmühen, sich auszudrücken, wenn man sich selbst mit erbarmungsloser Klarheit kannte? Und wozu sollte man reisen, wenn man wusste, dass man, wohin man auch ging, nichts so Faszinierendes finden würde wie andere Menschen?
Wie begrenzt diese Gemeinschaft infolgedessen doch war, dachte sie. Wie introvertiert, wie trist ihr Leben war. Sollte dies wirklich die Zukunft der Menschheit sein?
Bale beobachtete sie; freundliche Besorgnis, vermischt mit Stolz. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass seine Brüder und Anverwandten jede Sekunde, die er mit ihr verbracht hatte, selbst jene Momente, als sie sich im Wasser umarmt hatten, innerlich mit ihm geteilt hatten. Sie waren nie allein gewesen, nicht einmal in ihren intimsten Momenten. Sie verspürte ein plötzliches Unbehagen, einen Anflug von Abscheu.
19
Mir blieben noch vierundzwanzig Stunden bis zu meinem Rückflug in die Staaten. Tom hatte noch ein paar Tage länger Zeit. Er wollte sich London anschauen.
Ich beschloss, Onkel George einen Besuch abzustatten.
George lebte allein in einer ziemlich kleinen Stadt, ungefähr ein Dutzend Kilometer südwestlich von Manchester. Ich fuhr von London aus mit dem Zug hin. Bei der Ankunft zog ich meinen Softscreen-Stadtplan zurate und beschloss, auf die Kapselbusse und Rikschas zu verzichten und die paar Kilometer bis zu Georges Haus zu Fuß zu gehen.
Als ich noch klein gewesen war, hatte George mir gern erzählt, er halte es für eine törichte Vorstellung, dass die Zukunft von der Gegenwart oder der Vergangenheit losgelöst sei, als werde alles niedergerissen und wieder aufgebaut. Er hatte Recht. In dieser Stadt war der gesamte alte Hausbestand noch vorhanden; die schachteiförmigen Pendlerhäuser aus dem zwanzigsten Jahrhundert zwängten sich Seite an Seite in jeden verfügbaren Quadratzentimeter. Im Zeitalter des Automobils war dies nur eine von vielen Schlafstädten für die nahe gelegene Großstadt gewesen; ihre historischen Wurzeln lagen unter Wohnsiedlungen begraben. Heutzutage lebte man vernünftigerweise in der Stadt, wenn man in der Stadt arbeiten wollte, aber das bedeutete, dass Orte wie dieser ihre zentrale Funktion verloren hatten. Nun waren die Holztüren massiven, wetterfesten Rollläden aus Stahl gewichen, das Ziegelmauerwerk war mit silbriger Nano-Farbe überzogen, und die Fenster waren zugemauert.
Unterwegs sah ich keinen anderen Menschen. Es war unheimlich, durch die stillen Straßen zu gehen. Vor fünfzig Jahren wäre der ganze Ort mit einem Blechteppich ausgelegt gewesen, Autos hätten in jeder Auffahrt gestanden und Stoßstange an Stoßstange auf den Bürgersteigen geparkt. Jetzt waren die Autos fort, und die Häuser sahen mit ihren zugemauerten Fenstern aus, als kehrten sie einem den Rücken zu.
Tom und ich hatten so eine Art Frieden geschlossen. Oder wir waren uns einig, dass wir uns nicht einig waren. Oder so. Doch nun stellte ich fest, dass mich unsere Diskussion über das Patronat nicht mehr losließ.
Das Patronat war ein Vermächtnis von Amins Amtszeit, obwohl man es erst nach ihrem Tod gegründet hatte. Es war eine neue internationale Körperschaft, eine »grüne UN«, aufgebaut mit der Macht und der Autorität der amerikanischen Regierung. Ihre Hauptaufgabe, die Herausforderung des Jahrhunderts, bestand darin, die Ernährung der gesamten Menschheit sicherzustellen: die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf zu steigern und gleichzeitig unseren Verbrauch an Rohstoffen und Energie zu verringern.
Es hatte mit simplen Initiativen angefangen, die auf schnelle Ergebnisse abzielten, beispielsweise dem Kauf von Land, das hohen ökologischen Wert besaß, aber in Gefahr stand, durch Raubbau zerstört zu werden. Momentan arbeitete das Patronat an zwei großen Vorzeigeprojekten: der Rettung der Überreste des brasilianischen Regenwaldes, einer Brutstätte der Biodiversität und der evolutionären Innovation, und der Stabilisierung Chinas, das so ausgedörrt und übervölkert war, dass der Gelbe Fluss
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