Trapez
jedenfalls. Er war wohl kein schlechter Kerl, und ich war froh, jetzt Bescheid zu wissen. Und danach – na ja, Sachen passieren. Aber es gab keinen, der mir viel bedeutete.«
Tommy umarmte ihn. »Hättest du es mir doch gesagt.«
Mario lächelte im Dunkeln. Tommy konnte es an seiner Stimme hören.
»Wozu? Jeder vollblütige amerikanische Mann würde eher sterben, als so was zuzugeben. Aber ich glaub’, ich hab’ sowieso einen ziemlich schwachen Sextrieb. Und ich verbrauche so viel –so viel Energie am Trapez, dass nicht viel übrigbleibt. Ich glaub’…« Er schwieg und fuhr dann zaghaft fort: »Vielleicht haben die Leute nur soundsoviel Antrieb, und wenn du es alles aufbrauchst, bei dem, was du machst, hast du nicht viel übrig. Die Leute, die mit ihrer Arbeit nicht zufrieden sind oder bei denen sie nicht genug aus ihnen herausnimmt, suchen immer nach Sachen, um die Leere auszufüllen. Sex, der Trieb, ganz viel Geld zu machen und all das. Die meisten Leute sind irgendwie – ach, leer innen, hohl. Ich hab’ im College was über hohle Menschen gelesen, und ich dachte schon damals, dass die meisten Leute so sind, alle innen hohl, und dass sie versuchen, die Leere mit Sex auszufüllen, weil sie nichts anderes in sich drin haben .«
Tommy fragte schüchtern: »Fängst du deshalb mit diesen Sachen an, wenn du dich langweilst oder nicht zufrieden bist, wie es läuft?«
»Ja, ja! Genau das ist es!« Mario klang erregt, als ob er gerade etwas entdeckt hätte. »Wenn ich traurig bin oder mich mies oder elend fühle – und es ist wohl nicht fair, dass ich andere Leute dafür benutze, um meine schlechte Laune loszuwerden. Sex sollte doch mehr sein als das.
Wenn ich nur wü ss te, was?«
Tommy wollte nichts aufs Spiel setzen; er hatte Angst, lästig zu fallen, Angst, diesen seltenen Augenblick der Selbstenthüllung zu verderben. »Vielleicht – vielleicht kommt die schlechte Laune, weil du zu viel über deine Gefühle nachdenkst. Vielleicht – ich bin nicht sehr gut im Zuendedenken. Aber vielleicht mu ss t du mehr mit Leuten Zusammensein und aufhör en so viel zu denken. Ich mein’ nicht nur Sex, ich meine, andere Leute näher kennenzulernen, besser – oh verdammt, du weißt , was ich meine, nicht wahr?«
»Ja, ich glaub’ schon. Und ich weiß noch etwas: Wenn wir die ganze Nacht wachbleiben und reden, wird unsere Arbeit morgen davon nicht besser. Wir brauchen den Schlaf.« Er legte seinen Arm kurz um Tommys Schulter, nahm ihn dann wieder weg. »Schlaf ein bi ss chen, Kleiner.«
Tommy legte sich gehorsam hin. Er war aufgedreht, ging in Gedanken alles durch, was Mario gesagt hatte.
Halb begierig, halb widerstrebend, hatte er fast ein bi ss chen mehr erwartet. Man mu ss te sich erst daran ge wöhnen. Er war verwirrt und ein bi ss chen beunruhigt, und über dem Ganzen lag eine recht unerklärliche Zärtlichkeit.
»Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast, Mario.«
In der Dunkelheit fand Mario wieder seine Hand und drückte sie. Aber er sagte nichts. Sie waren beide schweigsam, mit dieser Berührungsunsicherheit, die unausweichlich einem zu persönlichen Gespräch folgt, das Vertrauen, das zu intime Stellen berührt hatte. Tommy war sich dieser Lücke, dieser Befangenheit bewu ss t.
Indem er diese Art Geständnis machte, hatte Mario, bis zu einem gewissen Grad, die Zukunft ihrer Beziehung in Tommys Hände gelegt. Jetzt lag die Last jeder weiteren Änderung oder Entwicklung auf Tommy. Für einen Moment war Tommy ärgerlich darüber.
Er bemerkte, hoffnungslos verwirrt, dass Mario sich wieder zurückgezogen hatte. Es war immer so. Sie waren zusammen – nah, Freunde, wie Brüder –, und plötzlich, ohne jede Warnung, war Mario Millionen von Kilome tern weit weg. Jenseits einer unsichtbaren Grenze. Sogar jetzt.
Er hatte jetzt nur eine leise Ahnung von der verwirrten Unsicherheit, die Mario veranla ss te, ihm die weiteren Schritte zu überlassen. Er rollte sich auf der Matratze zusammen, täuschte Schlaf vor. Nach einer langen Weile fühlte er, wie Mario seine Schulter berührte, aber er bewegte sich nicht, gab sich ahnungslos. Und Mario zog sich wieder zurück. Tommy wu ss te nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht war. Er flüchtete schließlich in den Schlaf zu seltsamen, nichtssagenden Träumen vom Heraufklettern an Seilen und Strickleitern, auf die Spitze eines riesigen Trapezes, nur um festzustellen, dass weit darüber noch eins war und noch eins darüber. Er träumte, an einem Trapez zu schwingen,
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