Trapez
Minuten, um dich für die Nummer umzuziehen!«
»Mario, es ist mein Vater. Er ist verletzt. Vielleicht ist er tot…«
»Es ist mir egal, ob die halbe Gemeinde tot ist. Du hast trotzdem in zehn Minuten oben auf dem Trapez zu sein.
Beweg dich!« Er gab Tommy einen derben Stoß , und Tommy taumelte zurück in die Dunkelheit des Geländes.
Er trat in den Trapezwagen ein, mit trockenem Mund.
Er fühlte sich aufgewühlt und hilflos. Um ihn herum waren die vertrauten Gerüche – Metall, feuchter Stoff, Talkum, Schweiß – aber sie schienen ihm neu und fremd zu sein. Sein Magen verkrampfte sich, als ob er sich erbrechen mü ss te. Mario hatte schon Hemd und Schuhe abgestreift. Tommy zog sein Trikot heraus, überprüfte mechanisch die Ösen an der Taille. Das war Angelos. Er nahm noch eins heraus und das war seins. Langsam begriff er, dass er sogar, wenn er seinen Vater hätte tot auf dem Käfigboden liegen sehen, immer noch dieses Trikot hätte anziehen und in acht Minuten auf dem Trapez stehen müssen.
Er steckte einen Fuß ins Trikot, lehnte sich dann an die Wand, zitterte am ganzen Körper, einen üblen Geschmack im Mund. Jetzt, als er ruhig sein Trikot über den nackten Beinen glattzog, ha ss te er Mario.
Mario drehte sich um und sah ihn an. »Wenn du dich übergeben mu ss t oder so, geh raus und bring’s hinter dich, bevor wir in die Manege gehen. Verdammt noch mal, Kleiner, beweg dich! Sie verlängern die Radnummer ein paar Minuten, wenn sie können, aber wir müssen fertig sein. Mach schon! Verdammt!«
In seiner Brust ballte sich noch immer eine harte Faust, aber das Zittern war kalter Wut gewichen. Er hielt den Mund und zog die Hosenbeine hoch. Angelo sprang in den Trapezwagen hinein, schon mit halbausgezogenem Hemd. Er streifte seine Hose mit einer einzigen Bewegung ab, zerrte dann sein Trikot hoch; es ri ss , er fluchte, bückte sich, um es gerade zu ziehen. Tommys Hände waren feucht; er trocknete sie sorgfältig, benetzte sie mit Alkohol und trocknete sie wieder, um die letzten Schweißspuren loszuwerden.
Angelo kam herüber und streckte seine Handgelenke aus. »Matt, leg hier einen großen Verband drauf, ja?
Tommy, dein Vater ist nicht tot – sie haben ihn nach Albuquerque ins Krankenhaus gebracht. Er braucht ein paar Stiche, aber ihm wird’s gutgehen. Mach dies fest, ja?«
Mario gestikulierte wild mit seinem Ellenbogen, und Tommy suchte in einer Schublade nach der Rolle Klebeband. Auf Angelos Arm war ein langer Blutstreifen.
»Soll ich heute Abend fangen?« fragte Mario.
»Nein, es geht schon. Mach jetzt bloß ein bi ss chen Pflaster drauf.«
Tommy stand betäubt daneben, als Mario das Pflaster in glatten Schlingen um Angelos Unterarm wickelte.
Irgendjemand wurde immer verletzt. Kein Tag verging, ohne dass Tommy selbst eine Zerrung, einen blauen Fleck oder eine Schürfwunde hatte. Einmal hatte sein Ellenbogen jeden Tag, zwei Monate lang, geschmerzt.
Aber die reißenden Klauen, die langen Fetzen aus blutigem Stoff… oder blutiger Haut …
»Tommy, verdammt, pa ss auf was du machst«, knurrte Angelo. »Streck deine Hände aus.«
Tommy schaffte es, heiser zu sagen: »Tut mir leid. Du hast Blut im Gesicht.«
»Matt, wirf einen nassen Waschlappen rüber. Tom, ball deine Fäuste oder dies Zeug schneidet, wenn du die Stange greifst«, erinnerte Angelo ihn. Er hörte auf zu wickeln und warf dann Tommy die Rolle Musselin zu.
»Hier, du verbindest Matts Handgelenk. Ich hol’ die Capes.«
Tommy gehorchte schweigend. Mittendrin blickte Mario auf. »Vorsicht, verdammt, das ist zu fest!«
»Tut mir leid…« Tommy hörte, wie seine Stimme zu zittern begann.
Mario sah mit wildem Blick auf. An seinem Haaransatz standen Schweißperlen . »Willst du ‘nen schönen Tritt in den Arsch, verdammt?«
»Sachte«, sagte Angelo. »Mach sachte mit dem Jungen, Matt.«
»Sachte, verdammt! Tom, du nimmst dich jetzt zusammen, oder ich nehme dich auseinander, hast du gehört?
Du hast Sand im Haar, hier.« Er nahm seinen eigenen Kamm auf und fuhr schnell durch Tommys Haar.
Papa Tony sprang auf den Trapezwagen. Er war schon im Kostüm. Einer der sehr wenigen Künstler bei Lambeth, die keine Extraaufgaben in der ersten Hälfte der Show hatten.
»Los, wir kommen zu spät«, sagte er, und im gleichen Augenblick steckte einer der Clowns seinen Kopf zur Tür rein.
»Santellis? Bereit?«
Papa Tony hob stolz das Kinn.
»Die Santellis sind immer bereit. Andiamo, ragazzi.«
Mario nahm Tommys Ellenbogen und
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