Trapez
lange.«
Wie durch einen Magnet angezogen, klammerten sie ihre Hände zusammen. Ich kann nicht für dich fallen.
»Bis dann, Mario. Bis Januar.«
»Sag nicht Auf Wiedersehen, Junge. Sag bloß Gute Nacht.« Er griff Tommys Hände noch fester, aber obwohl sie nah genug für eine Umarmung standen, kü ss te er ihn nicht, und Tommy dachte verblüfft, Warum nicht? Angelo hatte es getan. »Ich hab’ mal gesagt, Tommy: Tu sei mi fortuna o sventura… Vielleicht ist das Wenige besser als gar nichts. Vielleicht weißt du jetzt, warum ich es gesagt habe.« Er ging weg, ohne sich umzudrehen.
Tommy ging tränenblind zu seinem Wohnwagen zurück. Der dumpfe Schmerz in ihm war schlimmer als die Tränen. Innen stieß er im Dunkeln an irgendein Möbelstück und hörte seine Mutter rufen: »Bist du es, Tommy?
Es ist spät. Wo warst du?«
»Hab’ über die Saison gesprochen mit den Santellis.
Hab’ vergessen, wie spät es ist.«
»Na, geh ins Bett und weck deinen Vater nicht auf.«
Tommy zog sich im Dunkeln aus und ging ins Bett, zu beherrscht, um zu weinen, sich gar nicht bewu ss t, dass es das war, was er jetzt wollte. Er hörte, wie die Stunden hinwegtickten, und irgendwann vor Tagesanbruch hörte er ein Auto starten und das Knarren, als ein Wohnwagen wegrumpelte. Das war wohl der Santelli-Wohnwagen, der losfuhr. Er drehte sich um, vergrub sein Gesicht in dem verknautschten Kopfkissen und fühlte all die Verzweiflung und den Schmerz in sich, jenseits von Tränen; er glaubte nicht, dass es möglich war, so zu leben; ihm war, als ob nicht einmal der Tod den blinden, verzweifelnden Schmerz in ihm beenden könnte. Und doch wu ss te er trotz alledem, da ss , wenn der Morgen kam, er aufstehen würde und sich ruhig an die normalen Geschäfte des Tages machen würde. Wie immer. Es war einfach ein Teil von dem, was er war. Aber schon lief für ihn die Zeit im Rhythmus des Wartens, das jetzt sein ganzes Wesen geworden war. Kaum fünfzehn Jahre alt, hatte Tommy eine der schwersten Lektionen des Lebens gelernt, die auf die Jungen und Arglosen wartet: dass Verzweiflung, wie Liebe, keine sichtbaren Spuren hinterlä ss t.
Nicht einmal für die, die uns am besten kennen sollten; und dass Verzweiflung, wie Liebe, in ihrer eigenen Zeit existiert, außerhalb von Uhren und Kalendern, ein endloser Rhythmus des Wartens, des Fortschreitens und des Schmerzes. Er fühlte, dass er erst wieder im Januar richtig existieren würde, wenn er nach Hause, nach Kalifornien, fahren konnte zu den Santellis, zu Mario.
Sein Vater hatte den Santellis telegrafiert, wann Tommys Bus ankommen würde; aber als Tommy zum Busbahnhof kam, war niemand da, um ihn abzuholen. Einen Moment lang fragte er sich, ob die Santellis dachten, er sei dieses Jahr alt genug, um den Weg zum Haus selbst zu finden. Aber dann sah er Mario in der Menge der Ferienreisenden – wie immer in Straßenkleidern – dunkel, dünn, schlaksig, unordentlich – gar nicht wie er selbst.
»Hallo!«
»Hallo, Mario!«
»Gib mir deinen Koffer. Gute Reise gehabt?«
»Ganz gut. Kinder haben die ganze Nacht geweint, und ein Mädchen, das flirten wollte – oder vielleicht bloß ‘ne Schulter zum Schlafen suchte.«
Auf Marios Gesicht flackerte ein Grinsen auf, und auf einmal war er wieder der alte. »Du solltest für Mädchen nicht so verdammt attraktiv sein.«
»Beruflich vorteilhaft, sagt mein Dad.«
Mario hatte ein neues Auto: einen gebrauchten Cadillac; glänzend, dunkelgrau, nur vier oder fünf Jahre alt.
»Hey – schönes Auto!«
Mario öffnete die Tür und warf Tommys Koffer hinein.
»Hatte ein bi ss chen Glück im letzten Herbst. Hab’ mein ganzes Gespartes reingesteckt. Der alte Chrysler ist auseinandergefallen, und ich hab’ diesen billig von einem Typen aus der Ballettschule gekauft.«
»Acht Zylinder oder einer von diesen Zwölfern?«
»Ich hab’ nicht die geringste Ahnung, aber er läuft gut und bricht nicht ständig zusammen, und darauf kommt’s mir an. Du kannst mal unter die Haube sehen, wenn es dich wirklich interessiert. Pa ss auf deine Finger auf«, warnte er automatisch, bevor er die Tür zuknallte. »Hör zu, Tommy, ich war am Telefon, als das Telegramm deines Vaters durchgegeben wurde; ich war zufällig gerade da. Ich hab’ Lucia gesagt, dass du vor morgen nicht ankommen würdest. Okay?«
»Warum?«
Mario sah ihn nicht an und fummelte an der Gangschaltung herum. »Letztes Jahr wolltest du meine Wohnung sehen. Ich dachte, du würdest gern kommen und über
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