Trapez

Artisten hätten sie sich einen Platz im ›Nonnenwagen‹ teilen müssen, in dem alle ledigen Mädchen der Show untergebracht waren; er hatte gehört, dass in diesem Jahr neunzig Mädchen hineingestopft worden waren.
    Es war ein komisches Gefühl, in dem enormen ›Kochzelt‹ zu essen und Ellenbogen an Ellenbogen mit zweihundertzwanzig Artisten und dreihundert Arbeitern zu sitzen; das Essen war gut und die Bedienung ausgezeichnet, aber es war nicht mit Selbstkochen zu vergleichen.
    Es war seltsam, nach der Show einzuschlafen, wenn der Zug losfuhr, und die Schienen geräuschvoll bei der schlingernden Bewegu ng des Zuges unter ihren Köpfen hinwegrattern zu hören, statt ruhig in ihrem Wohnwagen ins Bett zu gehen.
    Trotzdem gewöhnte er sich daran. Er geno ss es, am Morgen auf grauen Abstellgleisen in fremden Städten aufzuwachen; er gewöhnte sich an die Enge im Umkleidezelt der Luftakrobaten, das er mit zwei Dutzend anderen Männern teilte. Er lernte, trotz der Protestgeräusche der Tiere, die im Morgengrauen oder bei Nacht einoder ausgeladen wurden, zu schlafen. Von jedem körperlich dazu fähigen Mann in der Show, sogar von bekannten Artisten, wurde erwartet, dass er den Arbeitern beim Aufbau der Zelte half. Tommy, der mit den Monteuren arbeitete, lernte den sekundenschnellen Rhythmus der Show: Das paukengleiche Hämmern der Pfostenbauer, der Singsang des Zeltmeisters, als seine Mannschaft am Hauptzelt arbeitete und die Zeltwand hochzog. Und den leisen Bas so profundo der schwarzen Zeltbauer mit dem melancholischen Jazzrhythmus ihres Gesanges: Take it, shake it, weave it, make it, mo-ove along!
    Wie Johnny es vorausgesagt hatte, bekamen sie alle eine Reihe von zusätzlichen Pflichten. Es wurde natürlich von ihnen erwartet, in der Parade mitzumachen, und da sie sich als Akrobaten wahrscheinlich ohne Schwierigkeiten halten und balancieren konnten, fanden sich Tommy und Johnny in der höchsten Takelage eines Segelschiffwagens wieder und trugen kaum mehr als Lendenschurze und Turbane. Angelo ritt in Kaftan und Turban in einer Janitscharengruppe zu Pferde; Papa Tony, im Sultanskostüm , fuhr einen Kampfwagen, umgeben von vier hübschen jungen Mädchen aus dem Luftballett. Stella hatte die traditionelle Aufgabe eines wirklich erfahrenen, weiblichen Akrobaten übernommen und saß hoch oben auf dem Hals eines Elefanten, während Mario, zu seinem ausgesprochenen Unbeha gen – er protestierte, aber das führte zu nichts – die meistgeha ss te Aufgabe in jedem Zirkus gezogen hatte: ein Kamel zu reiten.
    Zusätzlich landete Tommy nach einer Besprechung mit Coe Wayland, dem Luftmanager, in einer Akrobatennummer als Füllprogramm in einer der Nebenmanegen, während eine berühmte spanische Akrobatentruppe in der Hauptmanege auftrat. Die Akrobatennummer, die aus Coe Wayland, Johnny, Tommy, Mario und Stella bestand, wurde als ›The Gardners‹ angekündigt. Bei all diesen Veränderungen und Sonderaufgaben fand Tommy, dass jede Show ein neues Rennen gegen den Staub, verwickelte Trikots, verknotete Schuhbänder und die Zeit war. Er war immer außer Atem.
    Und trotzdem waren für ihn die ersten Monate dieser Saison eine dieser Ruhepausen, die in jedem Leben auftauchen. Ein Plateau der Ruhe und Zufriedenheit. Nach den Stürmen seines fünfzehnten Sommers wunderte er sich naiv über diesen Frieden und merkte mit sechzehn, dass es daran lag, dass er erwachsen geworden war.
    Trotz der Enge, der fehlenden Privatsphäre, baute sich zwischen ihm und Mario nicht annähernd so viel Spannung oder Frustration auf. Sie gingen zusammen überall hin, und es kam niemandem bei der Show in den Sinn, dass sie keine Brüder waren. Und ganz offensichtlich wurde diese Annahme unterstützt: die Art und Weise, in der Angelo sie bei Proben und im Umkleidezelt herumkommandierte; Tommys unmittelbarer und kindischer Gehorsam beim kleinsten Wort von Papa Tony; die große Offenheit ihrer Zuneigung, die sie harmloser erscheinen ließ , als sie war. Im Vertrag wurde er als Thomas LeRoy Zane jr., auftretend als Tommy Santelli, geführt, genauso wie Mario und Johnny als Matthew Gardner und John B.
    Gardner, auftretend als Mario Santelli und Johnny Santelli, geführt wurden. A ber sogar Zirkusleute, die Papa Tony seit Jahrzehnten kannten, glaubten, dass Tommy bloß einer der Santelli-Enkel war. Das Schild an ihrer Tür lautete: MARIO UND TOMMY SANTELLI. DIE ›FLYING SANTELLIS‹, genauso wie das an der Abteiltür nebenan TONIO UND ANGELO SANTELLI, und Mario