Trapez
sprach von Tommy überall in der Show immer nur als »mein kleiner Bruder«. Allein in ihrem winzigen Abteil unterhielten sie sich während der langen Nachtfahrten, wenn sie eigentlich schlafen sollten. Sehr oft schliefen sie Arm in Arm im unteren Bett ein, Marios Kopf ruhte auf Tommys Schulter, und das Klappern der Schienen wischte unter ihnen Bezirke und ganze Staaten hinweg. Nur ab und zu, wenn der alte Schatten in der Dunkelheit über Marios Gesicht strich, ahnte Tommy wieder etwas von der alten Entfremdung, und sogar dann war das nur flüchtig.
»Was sagt dir das Pfeifen des Zuges, ragazzo?«
Tommy dachte darüber nach. »Es sagt: ›ich bin einsam, einsam!‹«
»Dann sag ihnen, dass sie lügen – ich bin hier«, sagte Mario und legte seine Arme um Tommy, und der Schatten war fort.
Nur einmal, auf einer langen Nachtfahrt, als sie wachlagen und der Regen an das schwarze Fenster prasselte, war Mario angespannt und ruhelos, weil er an dem Nachmittag den Dreifachen versucht und ihn verfehlt hatte und gefallen war (er hasste es, wenn das in der Manege passierte, obwohl ihm hunderte von Fällen bei den Proben nichts ausmachten), und redete über die Vergangenheit.
»Beim Pfeifen eines Zuges fühle ich mich immer wie ein kleiner Junge. Ich bin in einem Zirkuszug aufgewachsen, weißt du?«
»Ich weiß , Lucia hat es mir erzählt.«
»Liss und ich haben immer gesagt, dass die Zugpfeifen singen: ›Andiamo, me vo, ma non so dove…‹«
Tommy verstand jetzt genug Italienisch, um zu übersetzen : Gehen wir, ich gehe, aber ich weiß nicht, wohin.
»Es machte mir immer Angst, ins Bett zu gehen und nicht zu wissen, wo wir aufwachen würden. Liss hat immer versucht, mir zu erzählen, dass es nichts ausmachte, weil wir, wohin wir auch führen, alle im Zug und sowieso alle beisammen wären, aber ich bekam immer Angst.
Ich wachte nachts auf und dachte, dass jeder andere auf der Welt schlief, dass bloß ich und die Zugpfeifen nicht wussten, wohin wir fahren, und dann bin ich heruntergeklettert und habe sie geweckt, bloß damit ich nicht allein auf der Welt mit den Zugpfeifen wäre…«
Tommy sagte zögernd, da Mario es nicht erwähnt hatte, seit der Vertrag unterzeichnet worden war: »Es ist zu schade, dass Liss dieses Jahr nicht bei uns sein kann.«
Mario starrte bloß trostlos auf den Regen, der am Fenster herunterlief, und sagte: »Na ja, Stella macht es ganz gut«, mit einer Stimme, die das Thema beendete, es verschnürte, es versiegelte und in einen Flu ss versenkte.
Tommy wuchs in dieser Saison seinen letzten Zentimeter und nahm vor dem ersten Juli vier Pfund zu. Papa Tony erlaubte ihm, einen Eineinhalbfachen in der Manege zu machen und bei der Probe einen doppelten Rückwärtssalto zu versuchen, und dann stoppte er ihn.
»Wenn du achtzehn bist«, sagte er, »kannst du alles versuchen, was du willst. Aber für jetzt ist es genug.«
Tommy war beigebracht worden, nicht zu widersprechen, aber Papa Tony sah, wie seine Augen rebellisch blitzten und sagte: »Na los, sag’s schon.«
»Papa Tony, ich möchte an ein paar der großen Tricks arbeiten. Sie bloß üben, bei den Proben. Mario hat den Zweieinhalbfachen gemacht, als er siebzehn war, und ich bin in der nächsten Spielzeit so alt.«
»Ja«, sagte der alte Mann langsam, »aber wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß , hätte ich es niemals gestattet. Ich habe ihn zu viel machen lassen, als er noch zu jung war. Es gab keine Steigerung mehr für ihn, als Kopf und Kragen zu riskieren bei dem verfluchten Dreifachen.«
»Du wolltest nicht, dass er das tut?« Das schien Tommy unglaublich. Der Dreifache war es, der die Santellis wieder berühmt machen würde, und er war es, worüber sich Papa Tony am meisten zu sorgen schien.
Langsam schüttelte der alte Mann seinen Kopf. »Nein, ich wollte es nicht. Ich wu ss te nicht, warum er es mu ss te; ich wu ss te nur, dass er es mu ss te und dass ich ihn nicht aufhalten konnte. Es hat einen Grund, warum sie den Dreifachen den Salto mortale nennen – das ist, la ss mich nachdenken, der ›Sprung des Todes‹, der ›schicksalhafte Sprung‹, aber, ich glaube, für ihn ist es mehr als das, vielleicht…« Wieder hielt er inne und dachte für einen Moment nach. »Ich glaube, dass es für ihn vielleicht den Sprung des Schicksals bedeutet. Sagt dir das irgendwas, Tommy?«
Das tat es. Tommy stand sprachlos da und sah den alten Mann an. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass der barsche, praktische Antonio Santelli
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