Trapez
ja, jedes bi ss chen hilft. Und wenn wir unseren eigenen Akt auf die Beine stellen wollen, werden wir es brauchen. Wir brauchen in diesem Jahr wirklich ein neues Netz.«
Mario sagte mit unterdrückter Heftigkeit: »Versuchst du mich aus dem Feld zu schlagen?«
Tommy saß aufrecht im Bett. »Was, zum Teufel, meinst du?«
»Ist ein ganz gutes Gefühl, nicht, wenn du weißt , dass du etwas machst, was ich nicht kann?«
Tommy starrte ihn an und verstand immer noch nicht.
»Hör mal, würde es dir lieber sein, wenn ich hier herumhänge und deiner Familie zur Last falle? Ich werde niemandem auf der Tasche liegen, Mario. Wir müssen einfach die Tatsache akzeptieren, dass wir, außer wenn wir zusammen arbeiten, ab und zu getrennt sein werden. Ich würde keinen Ärger machen, wenn du losgingest und wieder an der Ballettschule unterrichten würdest. Warum machst du mir deswegen Vorwürfe?«
»Aber hast du denn gedacht…« Mario kramte im Nachttisch nach einer Zigarette. »Hast du das gedacht? dass ich böse bin, weil Angelo dir einen Job besorgt hat und mir nicht?«
Es stimmte, ohne dass Tommy es in Worte gefa ss t hatte, aber jetzt dachte er es nicht mehr. »Nein, aber irgendetwas stört dich doch.«
Mario machte ein komisches Geräusch, das ein Lachen hätte sein können. »Dann habe ich Angelo falsch eingeschätzt. Ich dachte, er hätte nicht widerstehen können, dir alles zu erzählen –dass ich gekniffen habe. dass ich eine Heidenangst habe, wenn du all das machst und versuchst, dir deinen verdammten Hals zu brechen…« Seine Stimme wurde zu einem dünnen Krächzen. »Nicht dass es irgendeine Rolle spielt, aber es ist ein Hals, über den ich zufällig sehr viel nachdenke. Um den ich mir Sorgen mache.«
Tommy brachte kein Wort heraus. Wenn Mario plötzlich ein Fenster eingeschlagen hätte, wäre er weniger erstaunt gewesen.
»Angelo hat jedes Jahr Stunt-Arbeit gemacht – Rodeo reiten, Stürze – seit es Film-Stuntmen gibt. Er hat mir mal ein paar Aufträge ve rschafft. Zu der Zeit, als ich… das College verlassen mu ss te und…« Tommy hörte ihn in der Dunkelheit schlucken. »Ich drehte durch, hab’s vermasselt, wahnsinnige Angst, das ist alles, Schi ss .«
»Gott«, flüsterte Tommy, »und dabei hast du fünf Jahre am Dreifachen gearbeitet, und sie nennen es – wie heißt es? – ›Salto mortale‹.«
»Das ist etwas anderes. Nicht dasselbe. Überhaupt nicht dasselbe. Ich weiß , was ich am Trapez mache, weiß genau, wo mich jeder Schwung hinträgt; aber immer in den Dreck zu fallen, auf jede mögliche Weise, ganz verrenkt…«, seine Stimme verstummte. »Ich kann’s nicht ertragen, es ist ganz einfach Feigheit.«
»Was soll’s, Mario? Fallen ist fallen – man macht es aus Instinkt.«
»Das hat auch Angelo versucht, mir zu sagen«, sagte Mario mit dünner Stimme in die Dunkelheit. »Aber ich kann offenbar nicht von meinem Gehirn aus diese Nachricht weitergeben an meine – meine Muskeln oder an meine Nerven oder was dafür zuständig ist.«
Die Vernunft sagte Tommy, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, einen Haufen unerwarteter Unlogik und dass er ihn in Ruhe lassen sollte, aber er konnte es nicht.
»Weiter«, sagte er und versuchte, die Spannung durch das altbekannte Herumalbern zu zerstreuen. »Du kannst dich einfach nicht dazu bringen, etwas zu tun, das nicht elegant aussieht. Du brauchst das Scheinwerferlicht, den Applaus, bevor du deinen Hals riskierst.«
Die Kommodenschublade quietschte, als Mario sie aufzog. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er, und seine Stimme war unbeteiligt und ausdruckslos.
»Wohin gehst du?«
»Nirgends, geh schlafen.«
»Mario, ich hab’ doch nicht gemeint…«
»Halt die Klappe und schlaf.« Tommy wu ss te, dass alles, was er auch sagte, bloß seine abweisende Haltung verstärken würde, also streckte er sich wieder aus, und in dem langen Schweigen wu ss te er plötzlich, dass nichts zu sagen schlimmer sein würde. Marios Zurückziehen, sein plötzliches ›la ss mich in Ruhe‹, war ein Reflex – wahrscheinlich aus der Kindheit, wo jedes dringende Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder Mitgefühl so oft bis nach der Show oder nach der Saison aufgeschoben werden mu ss te. Jetzt störte Mitgefühl Mario bloß . Es schien für ihn sehr wichtig zu sein, dass er nicht den Anschein erweckte, er würde nach Zuneigung oder Wärme verlangen. Und er wies es am stärksten zurück, wenn er es am meisten brauchte.
Mario zog sich Jeans und Schuhe an und
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