Trapez
Musikerrang«, sagte Mario. »Vom vorderen Teil des Hauses führt eine Tür dahin. Da oben können Leute sitzen und zusehen, obwohl es darüber auch eine Art Regel gibt. Du glaubst sicher, dass es hier schlimmer als in der Armee ist. Mein ganzes Gerede über Regeln, aber an sich kannst du außerhalb des Übungsraums machen was du willst. Niemand widerspricht Oma, aber davon abgesehen ist es egal, was du machst. Aber hier in der Halle haben wir strenge Regeln, und wir halten uns daran.«
Er schien auf eine Antwort zu warten, deshalb sagte Tommy: »Mu ss wohl so sein.«
»Klar, wenn sie jemand bricht – und das bedeutet jeder, nicht nur die Flieger, jeder von Papa Tony bis hin zu Clay – , muss er auf die Knie und den Fußboden polieren.
Es klingt albern«, lachte Mario, »aber es funktioniert wirklich. Du wirst dich wundern. Es ist ein großer Fußboden und nach höchstens einoder zweimal, wenn die anderen drumrumstehen, blöde Bemerkungen machen, verletzt du die Regel nicht wieder.«
»Wie lauten denn diese ganzen Regeln?« fragte Tommy besorgt.
»Hauptsächlich ganz selbstverständliche Sachen.«
Mario öffnete eine Tür. »Diese Tür führt zum Umkleideraum, so nennen wir ihn, obwohl sich die Familie natürlich normalerweise oben in den Schlafzimmern umzieht.
Aber Papa Tony hat eine Menge Flieger trainiert, und einige Jahre lang hatten wir ein paar Dutzend Nummern hier, die das hier im Winter als Übungshalle benutzten.
Und das ist der Geräteraum.« Er öffnete eine zweite Tür zu einem muffigen Durcheinander, das nach Metall und Hanf und Talkum und Staub roch. »Hier bewahren wir die Ersatzausrüstung auf. Alte Trapeze, Gymnastikmatten und so ‘n Zeug. Das waren mal Anrichtezimmer oder die Unterkünfte der Hausangestellten oder so was ähnliches.
Und jetzt«, sagte er feierlich, als er die Türen schlo ss ,
»weihe ich dich in die Familienregeln ein. Wir machen eine kleine Zeremonie draus.«
Er führte Tommy zu etwas, das so aussah wie ein gerahmtes Bild an der Wand, aber keins war. Es war ein sehr altes vergilbtes Stück Papier mit wunderschöner, gestochener Handschrift in verbla ss ter Tinte. Tommy stand auf Zehenspitzen, um es zu lesen, ging dann aber enttäuscht zurück.«
»Aber das ist ja auf Italienisch !«
»Was sonst? Ich bezweifle, dass der alte Mario di Santalis jemals Englisch gelernt hat. Aber er starb ja, bevor ich geboren war, also weiß ich es nicht sicher. Aber damals waren Zirkusfamilien viel familienbewu ss ter als jetzt.
Und wir alle verlieren immer noch die Beherrschung auf Italienisch – oder wenn wir lieben. Hast du Papa Tony schon mal erlebt, wenn er durchdreht?«
Tommy nickte lachend. Papa Tonys Ausbrüche waren fast eine Legende nach einer Spielzeit beim Zirkus Lambeth.
»Papa Tony ließ dies rahmen, nachdem sein Vater starb; sie sind eine Art Familientradition. Eine getippte Abschrift auf Englisch hängt im Umkleideraum. Hier, ich les’ sie dir vor«, sagte Mario, aber anstatt zu lesen, lehnte er sich zurück, die Hände in den Taschen, und zitierte aus dem Gedächtnis:
»Die folgenden Regeln werden zu jeder Zeit in unserer Familie befolgt:
1. Es ist zu jeder Zeit verboten, in den Übungssälen zu rauchen.
2. Auf dem Fußboden oder auf dem Trapez dürfen keine Straßenschuhe getragen werden.
3. Es ist verboten zu üben, ohne dass das Netz korrekt befestigt ist.
4. Niemand darf allein auf dem hohen Trapez arbeiten.
5. Unter keinen Umständen darf Stra ß enkleidung auf dem Trapez getragen werden.
6. Faulpelze und Unbeteiligte dürfen nicht ohne Ge neh migung zusehen.
Alle Verstöße gegen die Disziplin werden entsprechend bestraft. Ein Artist zeichnet sich durch die sorgfältige Einhaltung der Disziplin aus.«
Als er so dastand und Marios ruhiger, ernster Stimme zuhörte, wurde Tommy plötzlich absolut klar, dass nicht vorn beim warmen Feuer, sondern hier hinten, in dem kalten, kahlen, staubigen Raum, hinter dem schützenden Glase des Rahmens, der eigentliche Mittelpunkt des Hauses lag. Ihn fröstelte, als er hinaufsah zu der kräftigen, anmaßenden , europäischen Unterschrift, die alles war, was er verstehen konnte: Mario di Santalis.
»Siehst du«, sagte Mario lächelnd, »alle Regeln haben Sinn. Egal wie sicher du dich fühlst: Du übst nie, niemals ohne Netz, und niemand geht jemals auf das Trapez, wenn nicht irgendjemand dabei ist. Straßenschuhe ruinieren den Fußboden , und du wirst dich noch wundern, was das für eine Versuchung ist, wenn
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